Man muß einmal diesen oder jenen Gesang der Komödie an Hand von Voßlers so-
genannter ästhetischer Erklärung durchgenommen haben; dann weiß man, daß
dieser Gelehrte mit viel Verständnis, aber auch mit vieler subjektiver Lyrik Dantes
künstlerische Welt wiederspiegelt. Eng an den heiligen Gang der Worte hält er
sich nicht und oft verdrängt sein sehr empfindsames, von Dantes herber Bildkraft
allzuweit entferntes Naturell die Absichten des Dichters völlig. Ein Beispiel für
unzählige. Im fünften Gesang des Inferno ist der Dichter von der Erzählung und
Klage des Liebespaares Francesca und Paolo („Pärchen" sagt Voßler) so tief er-
schüttert, daß ihm die Sinne schwinden wie im Tod und er hinfällt, wie ein
toter Leib hinfällt1). Voßler sieht das Fallen nicht und er verwandelt die starke
Empfindung Dantes in bloßes Geschmacht, indem er schreibt: „Für einen Augen-
blick sinkt auch der Dichter, als wollte er sein schönstes und liebstes Geschöpf
in das Nichts begleiten, in die Nacht der Bewußtlosigkeit"'-). Solche lyrische Para-
phrasen sind vielleicht nicht schlimm; den Kunsthistoriker erinnern sie an Henry
Thode, und jeder, der Dantes Vers im Kopfe hat, ist dagegen wie mit Erz gepan-
zert. Aber Voßler geht im Überschwang seiner Poesie auch weiter, und dann ist
es allerdings, als löse sich der Geist des erhabenen Gedichtes in billigste moderne
Lyrik auf. „Die Süßigkeit der Verdammnis und die Wollust der Hölle ist aus-
gekostet. Nun soll sie sich mit Bitternis und Ekel fühlbar machen." Welch
empfindsame und dennoch hartherzige Antithese, welch irreleitender Übergang,
indes der Dichter uns auf seinem strengen Wege mit aller Einfachheit, aber so,
daß unser Herz sich krampft, weiter führt: „Nuovi tormenti e nuovi tormentati."
Man darf ruhig sagen: auf nichts, was in der Komödie Zeichnung ist, was darin
Körper und Gestalt ist, macht Voßler seine Leser aufmerksam. Und doch meinte
kein anderer als Goethe, daß gerade in diesen Dingen der „eigentlichste Dichter-
geist" Dantes zu finden sei. Ein solcher Grundmangel in der Auffassung hat natür-
lich auch Voßlers Deutungen zum Nachteil werden müssen. Sehr oft geschieht es,
daß er, statt direkt auf Wort und Sinn des Dichters los zu gehen, naiv an dessen
Naivität teilnehmend, vielmehr über seine Gedanken hinredet und uns also nicht
nur die Stimmung, sondern auch die geistige Welt Dantes fortrückt. Seine Er-
klärung unserer Cimabuestelle, durch die sich Dvorak so bekräftigt fühlte, ist nun
dafür ein typisches Beispiel.
Voßler beginnt seinen Kommentar des Gesanges mit dem Hinweis auf die tiefe
Beziehung zwischen dem so ganz sozialen Vaterunser, das die Seelen hier ge-
meinschaftlich verrichten, und der antisozialen Sünde des Hochmuts, für die
jeder einzelne hier büßen muß. Francesco d'Ovidio hatte diesen Gedanken in
seinem Kommentar mit der ihm eigenen Zartheit bis ins einzelne durchgeführt,
und Voßler tat recht daran, dem gelehrten Italiener zu folgen. Aber sogleich ge-
riet er auf einen Abweg, als er den Inhalt des ganzen Passus nach jenem schönen
Gedanken modeln wollte. Das Individuum, behauptet er, dürfe sich in diesem Ge-
sänge nicht bemerkbar machen. Eigentlich zwar sollte man annehmen, daß die
Personen besonders deutlich gerade dort geschildert werden müssen, wo demütige
Beugung der Stolzen uns zu Augenschein und Bewußtsein gebracht werden soll.
„Nur langsam, mühsam heben einige Namen und Individualitäten sich ab", schreibt
Voßler. Aber das ist nichts als ein Gewaltspruch, denn wo ist diese Langsamkeit
verzeichnet und woran ist diese Mühsal zu empfinden? Allerdings den zuerst ge-
(i) Io venni meno com'io morisse e caddi, come corpo morto cade.
(2) K. Voßler, Die göttliche Komödie, p. 978.
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genannter ästhetischer Erklärung durchgenommen haben; dann weiß man, daß
dieser Gelehrte mit viel Verständnis, aber auch mit vieler subjektiver Lyrik Dantes
künstlerische Welt wiederspiegelt. Eng an den heiligen Gang der Worte hält er
sich nicht und oft verdrängt sein sehr empfindsames, von Dantes herber Bildkraft
allzuweit entferntes Naturell die Absichten des Dichters völlig. Ein Beispiel für
unzählige. Im fünften Gesang des Inferno ist der Dichter von der Erzählung und
Klage des Liebespaares Francesca und Paolo („Pärchen" sagt Voßler) so tief er-
schüttert, daß ihm die Sinne schwinden wie im Tod und er hinfällt, wie ein
toter Leib hinfällt1). Voßler sieht das Fallen nicht und er verwandelt die starke
Empfindung Dantes in bloßes Geschmacht, indem er schreibt: „Für einen Augen-
blick sinkt auch der Dichter, als wollte er sein schönstes und liebstes Geschöpf
in das Nichts begleiten, in die Nacht der Bewußtlosigkeit"'-). Solche lyrische Para-
phrasen sind vielleicht nicht schlimm; den Kunsthistoriker erinnern sie an Henry
Thode, und jeder, der Dantes Vers im Kopfe hat, ist dagegen wie mit Erz gepan-
zert. Aber Voßler geht im Überschwang seiner Poesie auch weiter, und dann ist
es allerdings, als löse sich der Geist des erhabenen Gedichtes in billigste moderne
Lyrik auf. „Die Süßigkeit der Verdammnis und die Wollust der Hölle ist aus-
gekostet. Nun soll sie sich mit Bitternis und Ekel fühlbar machen." Welch
empfindsame und dennoch hartherzige Antithese, welch irreleitender Übergang,
indes der Dichter uns auf seinem strengen Wege mit aller Einfachheit, aber so,
daß unser Herz sich krampft, weiter führt: „Nuovi tormenti e nuovi tormentati."
Man darf ruhig sagen: auf nichts, was in der Komödie Zeichnung ist, was darin
Körper und Gestalt ist, macht Voßler seine Leser aufmerksam. Und doch meinte
kein anderer als Goethe, daß gerade in diesen Dingen der „eigentlichste Dichter-
geist" Dantes zu finden sei. Ein solcher Grundmangel in der Auffassung hat natür-
lich auch Voßlers Deutungen zum Nachteil werden müssen. Sehr oft geschieht es,
daß er, statt direkt auf Wort und Sinn des Dichters los zu gehen, naiv an dessen
Naivität teilnehmend, vielmehr über seine Gedanken hinredet und uns also nicht
nur die Stimmung, sondern auch die geistige Welt Dantes fortrückt. Seine Er-
klärung unserer Cimabuestelle, durch die sich Dvorak so bekräftigt fühlte, ist nun
dafür ein typisches Beispiel.
Voßler beginnt seinen Kommentar des Gesanges mit dem Hinweis auf die tiefe
Beziehung zwischen dem so ganz sozialen Vaterunser, das die Seelen hier ge-
meinschaftlich verrichten, und der antisozialen Sünde des Hochmuts, für die
jeder einzelne hier büßen muß. Francesco d'Ovidio hatte diesen Gedanken in
seinem Kommentar mit der ihm eigenen Zartheit bis ins einzelne durchgeführt,
und Voßler tat recht daran, dem gelehrten Italiener zu folgen. Aber sogleich ge-
riet er auf einen Abweg, als er den Inhalt des ganzen Passus nach jenem schönen
Gedanken modeln wollte. Das Individuum, behauptet er, dürfe sich in diesem Ge-
sänge nicht bemerkbar machen. Eigentlich zwar sollte man annehmen, daß die
Personen besonders deutlich gerade dort geschildert werden müssen, wo demütige
Beugung der Stolzen uns zu Augenschein und Bewußtsein gebracht werden soll.
„Nur langsam, mühsam heben einige Namen und Individualitäten sich ab", schreibt
Voßler. Aber das ist nichts als ein Gewaltspruch, denn wo ist diese Langsamkeit
verzeichnet und woran ist diese Mühsal zu empfinden? Allerdings den zuerst ge-
(i) Io venni meno com'io morisse e caddi, come corpo morto cade.
(2) K. Voßler, Die göttliche Komödie, p. 978.
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