Dvoraks Argumentation gegen diesen Gedanken geht nicht sehr tief. Denn daß
der Schlußpassus hypothetisch gefaßt ist, trennt ihn keineswegs vollständig ab,
sondern verleiht ihm nur die feine, vorsichtige Tönung, ohne die sein kühner In-
halt unerträglich würde1). Und wenn Dvorak einwendet, der Passus beziehe sich
ja auf die Zukunft, während doch Giotto der Gegenwart angehöre, so ist das nicht
ganz richtig: forse e nato chi l'uno e l'altro caccera di nido ist ein wunderschönes
Beisammen von Vergangenheit und Zukunft, es rückt das kommende Ereignis so
nahe, daß es schon fast der Gegenwart angehört. Darum ist es auch ganz falsch,
den Schlußsatz eine „unbestimmte Anspielung auf die Zukunft" zu nennen, sie ist
(nicht der Interpretation, sondern dem Wortlaut nach) im Gegenteil von großer Be-
stimmtheit. Und ebenso unberechtigt ist es, die vorangehenden Verse eine histo-
rische Dokumentierung zu nennen, denn alles ist hier in jener schönen Labilität,
die das Geheimnis der dichterischen Realität ausmacht. Wäre nicht alles so labil
und wäre Dante so ängstlich mit seinen Gegensätzen, wie erklärte sich's dann,
daß er erst den älteren Guido als durch den jüngeren überwunden hinstellt und
doch hernach sagt: es würde einer wie der andere verjagt werden?
Während ich aber gerne bereit bin zuzugestehen, daß diese mir „einzig möglich"
erscheinende Erklärung nicht im vollen Sinne bewiesen werden kann, obschon auch
das tatsächliche Zeitverhältnis zwischen den verschiedenen Künstlern auf meiner
Seite ist, muß ich aufs entschiedenste daran festhalten, daß die Worte Dantes
über Cimabue und Giotto uns die „Vermutung nahe legen", Cimabue sei Giottos
Lehrer gewesen. Denn mehr habe ich nicht behauptet. Gerade an dieser Stelle
von Dvoraks Erwiderung ist mir einmal ein Zweifel an seiner guten Abs cht auf-
gestiegen. Er behauptet nämlich, ich hätte aus Dantes Worten die „Nachricht,
Cimabue sei der Lehrer Giottos gewesen herausgelesen". Ich habe jenen Zweifel
dann doch wieder unterdrückt, denn wäre hier überhaupt Absicht im Spiele, so
müsste ich ja Dvorak geradhinaus einer Fälschung für schuldig halten; ich bin
überzeugt, daß es nur Fahrlässigkeit gewesen ist, was ihn die „nahegelegte Ver-
mutung" in eine „Nachricht" umwandeln und mir daraufhin „unkritische Vergewal-
tigung der Quelle" vorwerfen ließ.
Die Vermutung aber ist aufs beste gegründet. Dante nennt Cimabue den Träger
des Ruhmes vor Giotto und setzt ihn (nach der engsten Interpretation) in Parallele
zu Guinicelli, den1 er an anderer Stelle als seinen eigenen und aller Liebesdichter
Lehrer höchlich feiert. Das legt gewiß den Gedanken nahe, Cimabue sei nicht nur
irgendein Maler von Ruf gewesen, sondern habe eine Stellung in der Kunst seiner
Zeit eingenommen, die jeden jüngeren Maler, der nach dem Höchsten strebte,
zwang, auf seine Ideen einzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wissen
wir aber außerdem, daß Cimabue ein Florentiner gewesen ist (und dies unser
Wissen stammt aus den Urkunden), so dürfen und müssen wir, bis zum Erweis
des Gegenteils, für das Wahrscheinlichste halten, daß Giotto, der Florentiner, jene not-
wendige Auseinandersetzung in persönlichem Umgang mit dem älteren Stadtgenossen
vorgenommen hat. Mag ihn der Zufall zuerst in welche Bottega immer gebracht
haben, mag er in wessen Atelier immer das Farbenreiben geübt haben (darüber
freilich wissen wir aus Dante nichts, denn wir haben eben keine „Nachricht" bei
ihm), sein wirklicher, sein historisch wichtiger Lehrer kann nur derjenige Floren-
tiner gewesen sein, der das letzte entscheidende Wort vor ihm gesprochen hatte.
(i) Vielleicht ist es von Wert, hier den Satz des großen Leopardi zu hören: „Niente e piü poetico
del forse."
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der Schlußpassus hypothetisch gefaßt ist, trennt ihn keineswegs vollständig ab,
sondern verleiht ihm nur die feine, vorsichtige Tönung, ohne die sein kühner In-
halt unerträglich würde1). Und wenn Dvorak einwendet, der Passus beziehe sich
ja auf die Zukunft, während doch Giotto der Gegenwart angehöre, so ist das nicht
ganz richtig: forse e nato chi l'uno e l'altro caccera di nido ist ein wunderschönes
Beisammen von Vergangenheit und Zukunft, es rückt das kommende Ereignis so
nahe, daß es schon fast der Gegenwart angehört. Darum ist es auch ganz falsch,
den Schlußsatz eine „unbestimmte Anspielung auf die Zukunft" zu nennen, sie ist
(nicht der Interpretation, sondern dem Wortlaut nach) im Gegenteil von großer Be-
stimmtheit. Und ebenso unberechtigt ist es, die vorangehenden Verse eine histo-
rische Dokumentierung zu nennen, denn alles ist hier in jener schönen Labilität,
die das Geheimnis der dichterischen Realität ausmacht. Wäre nicht alles so labil
und wäre Dante so ängstlich mit seinen Gegensätzen, wie erklärte sich's dann,
daß er erst den älteren Guido als durch den jüngeren überwunden hinstellt und
doch hernach sagt: es würde einer wie der andere verjagt werden?
Während ich aber gerne bereit bin zuzugestehen, daß diese mir „einzig möglich"
erscheinende Erklärung nicht im vollen Sinne bewiesen werden kann, obschon auch
das tatsächliche Zeitverhältnis zwischen den verschiedenen Künstlern auf meiner
Seite ist, muß ich aufs entschiedenste daran festhalten, daß die Worte Dantes
über Cimabue und Giotto uns die „Vermutung nahe legen", Cimabue sei Giottos
Lehrer gewesen. Denn mehr habe ich nicht behauptet. Gerade an dieser Stelle
von Dvoraks Erwiderung ist mir einmal ein Zweifel an seiner guten Abs cht auf-
gestiegen. Er behauptet nämlich, ich hätte aus Dantes Worten die „Nachricht,
Cimabue sei der Lehrer Giottos gewesen herausgelesen". Ich habe jenen Zweifel
dann doch wieder unterdrückt, denn wäre hier überhaupt Absicht im Spiele, so
müsste ich ja Dvorak geradhinaus einer Fälschung für schuldig halten; ich bin
überzeugt, daß es nur Fahrlässigkeit gewesen ist, was ihn die „nahegelegte Ver-
mutung" in eine „Nachricht" umwandeln und mir daraufhin „unkritische Vergewal-
tigung der Quelle" vorwerfen ließ.
Die Vermutung aber ist aufs beste gegründet. Dante nennt Cimabue den Träger
des Ruhmes vor Giotto und setzt ihn (nach der engsten Interpretation) in Parallele
zu Guinicelli, den1 er an anderer Stelle als seinen eigenen und aller Liebesdichter
Lehrer höchlich feiert. Das legt gewiß den Gedanken nahe, Cimabue sei nicht nur
irgendein Maler von Ruf gewesen, sondern habe eine Stellung in der Kunst seiner
Zeit eingenommen, die jeden jüngeren Maler, der nach dem Höchsten strebte,
zwang, auf seine Ideen einzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wissen
wir aber außerdem, daß Cimabue ein Florentiner gewesen ist (und dies unser
Wissen stammt aus den Urkunden), so dürfen und müssen wir, bis zum Erweis
des Gegenteils, für das Wahrscheinlichste halten, daß Giotto, der Florentiner, jene not-
wendige Auseinandersetzung in persönlichem Umgang mit dem älteren Stadtgenossen
vorgenommen hat. Mag ihn der Zufall zuerst in welche Bottega immer gebracht
haben, mag er in wessen Atelier immer das Farbenreiben geübt haben (darüber
freilich wissen wir aus Dante nichts, denn wir haben eben keine „Nachricht" bei
ihm), sein wirklicher, sein historisch wichtiger Lehrer kann nur derjenige Floren-
tiner gewesen sein, der das letzte entscheidende Wort vor ihm gesprochen hatte.
(i) Vielleicht ist es von Wert, hier den Satz des großen Leopardi zu hören: „Niente e piü poetico
del forse."
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