Hätte Male gesagt, daß die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts — also die Kinder-
jahre der Frühgeschichtsforschung in Europa — mit ihren beiden wildbewegten,
kriegerischen Intermezzi, viel dazu beigetragen hat, um das Forschungsgebiet hüben
und drüben womöglich durch buntgestrichene Zollschranken umzuschreiben; hätte
er behauptet, daß die Zeit, wo Grimms Märchen, Müllenhoffs Untersuchungen und
Freytags Romane entstanden sind, wo Max Müllers Entdeckungen das nationale
Bewußtsein einer uralten Kultur in die Höhe trieben, eine Zeit, wo die Arminius-
schlacht als politisches Schlagwort gegen alles Lateinische in die Schranken ge-
führt wurde; hätte er vorgeführt, wie die hastige Sucht, aus dem künstlerischen
Bannkreise von Versailles und der Tuilerien — die selbst noch in der Klein-
krämerei des Biedermeier nachklangen — zu entkommen, die Deutschen in einen
Zustand der Exaggeration hineintrieb, wo Wunderblüten, wie die mauresk-elisabetha-
nische Neogotik, sprossen, wo des Romantizismus blaue Blume sich die Menschen-
seelen errang, und wo endlich auch die Wurzeln des alles überragenden Wagner-
schen Genius schlugen; hätte er, kurz, darauf hingewiesen, daß — wie jedes Wissen
— auch die deutsche Gelehrsamkeit sich durch Irrwege gegen das Licht zu durch-
arbeitete, dabei vielleicht Holzwege einschlug, vielleicht zu große Sätze nahm, für
die der Atem der gleichzeitigen objektiven Wissenschaft nicht hinreichte; hätte er
ein bißchen Sachlichkeit darauf verwendet, um zu erkennen, daß ja die ganze
Orientalistik, die berufen ist, ein Licht auf die wandernden Völker Europas zu
werfen, kaum einige Jahrzehnte alt ist, und daß die nationale surexcitation — der
Hammer in Males Hand — zum großen Teil vor die Anfänge einer intensiveren
Asienkunde fällt, daß aber die Deutschen vom ersten Augenblicke an die Objekti-
vität und den weiten Blick besaßen, die Wichtigkeit dieses neuen Wissensgebietes
auch vom Standpunkte ihrer eigenen Vor- und Frühgeschichte zu ermessen: Male
hätte der — trotz allem — gemeinsamen Sache der Wissenschaft einen besseren
Dienst erwiesen, als durch dieses tiradendurchwobene, betörende Pamphlet. Es
sind oben wahrlich nur die hauptsächlichsten Träger der einzelnen Forschungs-
gebiete, die auf die Kultur des frühen Mittelalters Bezug haben, genannt worden:
es ergab sich trotzdem, daß Male - — unter dem offenbaren Drucke der Kriegs-
psychose — eine Menge ehrlich geleisteter Arbeit, ein mächtiges Sehnen nach
Wahrheit und ein Wollen des sachlichen Wissens, wie es kaum in einem Volke
noch solchermaßen vorherrscht, einfach unterschlug. Ein Verbrechen ist das!
*
Und das Bibelot-Wesen Males zeigt sich am klarsten in dem kleinlichen Zuge,
womit er die aus verschiedenen ungenannten Quellen gezogenen, orientalistisch ge-
richteten Tatsachen zu einem Zerrbilde der Wahrheit, zu einem offenbaren Trug-
schlusse, zur Negierung des germanischen künstlerischen Geistes zusammenstückelt.
Es sind ja derer so manche — - und nicht zuletzt unter den Deutschen selbst —
die eine Alleinherrschaft des germanischen „Kunstwollens" im frühen Mittelalter
auch von anderen Standpunkten als denjenigen der oben in extenso vorgeführten
Asienkunde aus verneinen. Riegl suchte die römisch-imperialistische Kunst als
treibenden Germ zu erweisen. Falke glaubt hinwieder an den starken Einfluß
der pontischen und byzantinischen Künstler auf die wandernden Völker; einen ganz
besonders zu beachtenden Standpunkt vertritt Drexel, in dem er die Keltenreste
in Mitteleuropa schon in einer Reihe von Denkmälern nachwies.
Doch kein Forscher — weder deutscher noch fremder Zunge — getraute sich
bisher, das — geben wir zu — vielleicht manchmal allzu begeisterte Bild, das
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jahre der Frühgeschichtsforschung in Europa — mit ihren beiden wildbewegten,
kriegerischen Intermezzi, viel dazu beigetragen hat, um das Forschungsgebiet hüben
und drüben womöglich durch buntgestrichene Zollschranken umzuschreiben; hätte
er behauptet, daß die Zeit, wo Grimms Märchen, Müllenhoffs Untersuchungen und
Freytags Romane entstanden sind, wo Max Müllers Entdeckungen das nationale
Bewußtsein einer uralten Kultur in die Höhe trieben, eine Zeit, wo die Arminius-
schlacht als politisches Schlagwort gegen alles Lateinische in die Schranken ge-
führt wurde; hätte er vorgeführt, wie die hastige Sucht, aus dem künstlerischen
Bannkreise von Versailles und der Tuilerien — die selbst noch in der Klein-
krämerei des Biedermeier nachklangen — zu entkommen, die Deutschen in einen
Zustand der Exaggeration hineintrieb, wo Wunderblüten, wie die mauresk-elisabetha-
nische Neogotik, sprossen, wo des Romantizismus blaue Blume sich die Menschen-
seelen errang, und wo endlich auch die Wurzeln des alles überragenden Wagner-
schen Genius schlugen; hätte er, kurz, darauf hingewiesen, daß — wie jedes Wissen
— auch die deutsche Gelehrsamkeit sich durch Irrwege gegen das Licht zu durch-
arbeitete, dabei vielleicht Holzwege einschlug, vielleicht zu große Sätze nahm, für
die der Atem der gleichzeitigen objektiven Wissenschaft nicht hinreichte; hätte er
ein bißchen Sachlichkeit darauf verwendet, um zu erkennen, daß ja die ganze
Orientalistik, die berufen ist, ein Licht auf die wandernden Völker Europas zu
werfen, kaum einige Jahrzehnte alt ist, und daß die nationale surexcitation — der
Hammer in Males Hand — zum großen Teil vor die Anfänge einer intensiveren
Asienkunde fällt, daß aber die Deutschen vom ersten Augenblicke an die Objekti-
vität und den weiten Blick besaßen, die Wichtigkeit dieses neuen Wissensgebietes
auch vom Standpunkte ihrer eigenen Vor- und Frühgeschichte zu ermessen: Male
hätte der — trotz allem — gemeinsamen Sache der Wissenschaft einen besseren
Dienst erwiesen, als durch dieses tiradendurchwobene, betörende Pamphlet. Es
sind oben wahrlich nur die hauptsächlichsten Träger der einzelnen Forschungs-
gebiete, die auf die Kultur des frühen Mittelalters Bezug haben, genannt worden:
es ergab sich trotzdem, daß Male - — unter dem offenbaren Drucke der Kriegs-
psychose — eine Menge ehrlich geleisteter Arbeit, ein mächtiges Sehnen nach
Wahrheit und ein Wollen des sachlichen Wissens, wie es kaum in einem Volke
noch solchermaßen vorherrscht, einfach unterschlug. Ein Verbrechen ist das!
*
Und das Bibelot-Wesen Males zeigt sich am klarsten in dem kleinlichen Zuge,
womit er die aus verschiedenen ungenannten Quellen gezogenen, orientalistisch ge-
richteten Tatsachen zu einem Zerrbilde der Wahrheit, zu einem offenbaren Trug-
schlusse, zur Negierung des germanischen künstlerischen Geistes zusammenstückelt.
Es sind ja derer so manche — - und nicht zuletzt unter den Deutschen selbst —
die eine Alleinherrschaft des germanischen „Kunstwollens" im frühen Mittelalter
auch von anderen Standpunkten als denjenigen der oben in extenso vorgeführten
Asienkunde aus verneinen. Riegl suchte die römisch-imperialistische Kunst als
treibenden Germ zu erweisen. Falke glaubt hinwieder an den starken Einfluß
der pontischen und byzantinischen Künstler auf die wandernden Völker; einen ganz
besonders zu beachtenden Standpunkt vertritt Drexel, in dem er die Keltenreste
in Mitteleuropa schon in einer Reihe von Denkmälern nachwies.
Doch kein Forscher — weder deutscher noch fremder Zunge — getraute sich
bisher, das — geben wir zu — vielleicht manchmal allzu begeisterte Bild, das
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