DR. RUDOLF KAUTZSCH, ordentlicher Pro-
fessor DER KUNSTGESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT
FRANKFURT A. M.
Ich gestehe, daß ich nur mit Widerstreben der Aufforderung gefolgt bin, mich
über Emile Males „Studien" zu äußern. Ich war der Meinung, die Unehrlichkeit
des französischen Forschers, den wir früher geachtet haben, sei so groß, seine Bös-
willigkeit so offenkundig, daß man auf diesen Erguß eines irren Hasses (vgl. S. 399
über die Langobarden!) nicht sachlich antworten dürfe. Das wäre viel zu viel
Ehre! Wenn ich nun dennoch einer wiederholten Anregung nachgebe und einiges
zur Kritik vorbringe, so wende ich mich damit nicht an Herrn Male, sondern an
solche Leser, denen es um die Sache zu tun ist.
Die erste Unehrlichkeit Males ist die Beschränkung der „Studien" auf das Mittel-
alter. Wir werden belehrt: „was für das Mittelalter zutrifft, stimmt auch für die
neuere Zeit." Kein Wort mehr. Und dabei soll man sich beruhigen?! An wen
wendet sich denn der Verfasser eigentlich? Ist die Unwissenheit in Frankreich so groß,
daß nicht auch dort jeder Leser sofort fragen sollte: Und Schongauer, Pacher, Dürer,
Grünewald, Altdorfer, Holbein? Und Stoß, Riemenschneider, Fischer, Kraft und
alle die anderen? Sind die auch alle „Nachahmer"? Und der deutsche Barock,
dessen Selbständigkeit sogar die französischen Zeitgenossen erkannten?! Ist das
alles nichts? Nein — so leicht ist es nun schließlich doch nicht, die „Ergebnisse"
der mittelalterlichen Studien Males auch in den nachmittelalterlichen Zeiten be-
stätigt zu finden. Und weil Emile Male das wenigstens dunkel ahnte — wirkliche
Kenntnis der deutschen Kunst dürfen wir ja nach den Proben, die er von seinem
Wissen gibt, nicht bei ihm voraussetzen •— deshalb half er sich mit jener frivolen
Wendung.
Hat man das einmal erkannt, dann wundert man sich nicht, derselben Unehrlich-
keit auf Schritt und Tritt wieder zu begegnen, ebenso im Verschweigen von allem,
was nicht zu seiner These paßt, wie im Auslegen der Tatbestände, wie im Zi-
tieren. Ich will im Folgenden einige Punkte herausgreifen, wie ich sie mir beim
Lesen notiert habe. Auf eine erschöpfende Widerlegung gehe ich dabei natürlich
nicht aus.
Da ist zunächst und vor allem der ganze Begriff der „Nachahmung". Natürlich
wird einzelnes, zu Zeiten auch vieles in Deutschland von auswärts übernommen.
Geben wir es ruhig zu: wir sind immer williger gewesen, von unseren Nachbarn
zu lernen, wohlgemerkt, soweit es sich um Fragen der Form handelte. Aber erstlich
ist das durchaus nur ein relativer Unterschied, der uns von den anderen abhebt.
Auch die anderen haben voneinander dies und jenes entlehnt. Und gerade in
Frankreich ist die Abhängigkeit vom Ausland, von Italien, zu Zeiten viel stärker
gewesen, als bei uns: die Kunst des 16. Jahrhunderts ist dort viel italienischer als
die unsere gewesen, und die ganze französische Baukunst des 17. und 18. Jahr-
hunderts steht in viel engerem Zusammenhang mit der klassischen Architektur
Italiens als der deutsche Barock. Aber freilich, was bei uns „Nachahmung" heißt,
das nennt Male in Frankreich „brüderliches Zusammenwirken mit Italien". Er
schätzt seine Leser sehr tief ein. In Wirklichkeit kommt es doch allein darauf an,
was aus den einzelnen Motiven wird. Es ist natürlich außerordentlich billig, zu
sagen, der kleeblattförmige Grundriß der Kölner Chöre ist lombardisch. Ebenso
161
fessor DER KUNSTGESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT
FRANKFURT A. M.
Ich gestehe, daß ich nur mit Widerstreben der Aufforderung gefolgt bin, mich
über Emile Males „Studien" zu äußern. Ich war der Meinung, die Unehrlichkeit
des französischen Forschers, den wir früher geachtet haben, sei so groß, seine Bös-
willigkeit so offenkundig, daß man auf diesen Erguß eines irren Hasses (vgl. S. 399
über die Langobarden!) nicht sachlich antworten dürfe. Das wäre viel zu viel
Ehre! Wenn ich nun dennoch einer wiederholten Anregung nachgebe und einiges
zur Kritik vorbringe, so wende ich mich damit nicht an Herrn Male, sondern an
solche Leser, denen es um die Sache zu tun ist.
Die erste Unehrlichkeit Males ist die Beschränkung der „Studien" auf das Mittel-
alter. Wir werden belehrt: „was für das Mittelalter zutrifft, stimmt auch für die
neuere Zeit." Kein Wort mehr. Und dabei soll man sich beruhigen?! An wen
wendet sich denn der Verfasser eigentlich? Ist die Unwissenheit in Frankreich so groß,
daß nicht auch dort jeder Leser sofort fragen sollte: Und Schongauer, Pacher, Dürer,
Grünewald, Altdorfer, Holbein? Und Stoß, Riemenschneider, Fischer, Kraft und
alle die anderen? Sind die auch alle „Nachahmer"? Und der deutsche Barock,
dessen Selbständigkeit sogar die französischen Zeitgenossen erkannten?! Ist das
alles nichts? Nein — so leicht ist es nun schließlich doch nicht, die „Ergebnisse"
der mittelalterlichen Studien Males auch in den nachmittelalterlichen Zeiten be-
stätigt zu finden. Und weil Emile Male das wenigstens dunkel ahnte — wirkliche
Kenntnis der deutschen Kunst dürfen wir ja nach den Proben, die er von seinem
Wissen gibt, nicht bei ihm voraussetzen •— deshalb half er sich mit jener frivolen
Wendung.
Hat man das einmal erkannt, dann wundert man sich nicht, derselben Unehrlich-
keit auf Schritt und Tritt wieder zu begegnen, ebenso im Verschweigen von allem,
was nicht zu seiner These paßt, wie im Auslegen der Tatbestände, wie im Zi-
tieren. Ich will im Folgenden einige Punkte herausgreifen, wie ich sie mir beim
Lesen notiert habe. Auf eine erschöpfende Widerlegung gehe ich dabei natürlich
nicht aus.
Da ist zunächst und vor allem der ganze Begriff der „Nachahmung". Natürlich
wird einzelnes, zu Zeiten auch vieles in Deutschland von auswärts übernommen.
Geben wir es ruhig zu: wir sind immer williger gewesen, von unseren Nachbarn
zu lernen, wohlgemerkt, soweit es sich um Fragen der Form handelte. Aber erstlich
ist das durchaus nur ein relativer Unterschied, der uns von den anderen abhebt.
Auch die anderen haben voneinander dies und jenes entlehnt. Und gerade in
Frankreich ist die Abhängigkeit vom Ausland, von Italien, zu Zeiten viel stärker
gewesen, als bei uns: die Kunst des 16. Jahrhunderts ist dort viel italienischer als
die unsere gewesen, und die ganze französische Baukunst des 17. und 18. Jahr-
hunderts steht in viel engerem Zusammenhang mit der klassischen Architektur
Italiens als der deutsche Barock. Aber freilich, was bei uns „Nachahmung" heißt,
das nennt Male in Frankreich „brüderliches Zusammenwirken mit Italien". Er
schätzt seine Leser sehr tief ein. In Wirklichkeit kommt es doch allein darauf an,
was aus den einzelnen Motiven wird. Es ist natürlich außerordentlich billig, zu
sagen, der kleeblattförmige Grundriß der Kölner Chöre ist lombardisch. Ebenso
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