REZENSIONEN.
WILHELM R. VALENTINER, Aus der
niederländischen Kunst. Mit 60 Ab-
bildungen. 40. 207 S. — Berlin, Bruno
Cassirer, 1914 (erst 1916 erschienen).
Unter dem Titel „Aus der niederländischen Kunst"
hat Valentiner eine Reihe von unter sich nicht
zusammenhängenden Aufsätzen vereinigt, die seit
1906 an verschiedenen Stellen zerstreut erschienen
sind. Es ist ein weites Stoffgebiet, das sie um-
fassen; es reicht vom mittelalterlichen Kirchenbau
bis zu van Dyck und Rembrandt. Die Einleitung
bildet eine ästhetische Studie über die „Linien-
komposition in der holländischen Kunst". Der
daran sich anschließende Aufsatz über die „Kirch-
liche Baukunst Hollands im Mittelalter" gibt einen
kurz aber geschickt zusammengefaßten Blick über
dieses wenig behandelte Thema. Die darauffol-
gende Darstellung der „Haarlemer Malerschule des
fünfzehnten Jahrhunderts" ist eine gut gelungene,
mit manchen neuen Beiträgen bereicherte Über-
sicht über den Stand der Forschung auf diesem
an noch offenen Fragen ebenso reichen, wie an
festen Anhaltspunkten armen Gebiet. Der Wert
von Valentiners Darstellung wird erhöht durch die
Einführung und Abbildung von in weitern Kreisen
noch wenig bekannten Bildern aus amerikanischem
Besitz; zu bedauern ist hierbei nur, daß von diesen
die Chches zum Teil nicht größer genommen wor-
den sind. Im Anhang finden wir zur Vervollstän-
digung eine kurze Zusammenstellung der erhal-
tenen — bezeugten und zugeschriebenen — Werke
der behandelten Meister von Dirck Bouts bis auf
Mostaert und Jacob Cornelisz. Eine Untersuchung
über „Satirische Darstellungen des Quinten Metsys"
schließt sich an. Den Mittelpunkt des Buches
bilden die drei Aufsätze über Rembrandt. Der
erste verfolgt „Rembrar dt auf der Lateinschule"
und ist ein Beitrag zur Rekonstruktion der Geistes-
verfassung dieses problemreichsten aller Künstler.
Der zweite Aufsatz gibt eine feine Analyse der
„Blendung Simsons", und der dritte untersucht
die Entwicklung der Susannathemas und enthält
den so überaus wertvollen Hinweis auf die Zu-
sammenhänge mit Lastman; die Resultate dieser
Abhandlung sind von der Rembrandtforschung
längst als Gemeingut annektiert. Wüßten wir es
nicht, die Wärme des Ausdrucks und die Treff-
sicherheit der Charakteristik würden es uns ver-
raten, daß Valentiner sich hier auf seinem bevor-
zugten Lieblingsgebiete bewegt. Zumal die Schil-
derung der verschiedenen Entwicklungsstufen von
Rembrandts Susannafigur gehört sicher zum Schön-
sten, was in dieser Art geschrieben wurde. Der
Vortrag über die „Holländische Fliesenkeramik"
ist eine leicht lesbare Einführung in diesen Stoff
und zugleich ein Dokument für die Weite von
Valentiners Interessenkreis. Den Beschluß bilden
zwei reich illustrierte Studien über Gemälde von
Rubens und van Dyck in Amerika.
Beim Durchblättern des Buches, dessen zusam-
menhangslose Teile durch die Persönlichkeit ihres
Verfassers zu einer anziehenden Einheitlichkeit
verschmelzen, wollen sich gegen die Zuscl reibung
des einen und andern Bildes an diesen oder jenen
Meister vielleicht einige Bedenken regen; da diese
sich aber lediglich an der Hand der zu diesem
Zwecke ungenügenden Reproduktionen nicht hin-
reichend verteidigen lassen, sollen sie nicht zur
Sprache kommen. Nicht zu unterdrückenden Wider-
spruch hat in mir hingegen der einleitende Aufsatz
über die „Linienkomposition in der holländischen
Kunst" wachgerufen. Unter Linienkomposition ver-
steht Valentiner die in die Augen fallende Ver-
wendung geradliniger oder nach der Geraden ten-
dierender Umrisse und Richtungslinien innerhalb
des Bildes. Um deren Vorkommen zu erklären,
holt er weit aus und konstruiert mit Hilfe Taine-
scher Argumente eine aus geographischen und
praktischen Lebensverhältnissen abzuleitende Ver-
anlagung des holländischen Künstlerauges für die
Linienkomposition. An der Hand der durch Valen-
tiner herausgehobenen Beispiele wirkt seine Dar-
legung durchaus überzeugend. Die Auswahl der
Beispiele scheint mir nun aber nicht ohne Vorein-
genommenheit für die beabsichtigte Konstruktion
stattgefunden zu haben. Wenigstens glaube ich,
daß mit Hilfe beliebig vieler, mit erheblich weniger
Sorgfalt ausgewählter Beispiele sich die entschie-
dene Abneigung der holländischen Künstler gegen
die „Linienkomposition" erfolgreich verfechten
ließe. Auf keinen Fall scheint mir die „Linien-
komposition" für die holländische Kunst von ty-
pischer Geltung zu sein. Und ohne diese Voraus-
setzung ist das Wertvolle einer abstrahierenden
Konstruktion in der Art von Valentiners Unter-
suchung schwer einzusehen.
Eine englische Übersetzung des Buches, die vor
der deutschen Ausgabe in New York erschien, ent-
hält noch einen hier fehlenden belangreichen Auf-
satz über die Maler Govert und Dirk Camphuysen,
sowie ein Verzeichnis der in Amerika befindlichen
Gemälde Rembrandts. O. Hirschmann-
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WILHELM R. VALENTINER, Aus der
niederländischen Kunst. Mit 60 Ab-
bildungen. 40. 207 S. — Berlin, Bruno
Cassirer, 1914 (erst 1916 erschienen).
Unter dem Titel „Aus der niederländischen Kunst"
hat Valentiner eine Reihe von unter sich nicht
zusammenhängenden Aufsätzen vereinigt, die seit
1906 an verschiedenen Stellen zerstreut erschienen
sind. Es ist ein weites Stoffgebiet, das sie um-
fassen; es reicht vom mittelalterlichen Kirchenbau
bis zu van Dyck und Rembrandt. Die Einleitung
bildet eine ästhetische Studie über die „Linien-
komposition in der holländischen Kunst". Der
daran sich anschließende Aufsatz über die „Kirch-
liche Baukunst Hollands im Mittelalter" gibt einen
kurz aber geschickt zusammengefaßten Blick über
dieses wenig behandelte Thema. Die darauffol-
gende Darstellung der „Haarlemer Malerschule des
fünfzehnten Jahrhunderts" ist eine gut gelungene,
mit manchen neuen Beiträgen bereicherte Über-
sicht über den Stand der Forschung auf diesem
an noch offenen Fragen ebenso reichen, wie an
festen Anhaltspunkten armen Gebiet. Der Wert
von Valentiners Darstellung wird erhöht durch die
Einführung und Abbildung von in weitern Kreisen
noch wenig bekannten Bildern aus amerikanischem
Besitz; zu bedauern ist hierbei nur, daß von diesen
die Chches zum Teil nicht größer genommen wor-
den sind. Im Anhang finden wir zur Vervollstän-
digung eine kurze Zusammenstellung der erhal-
tenen — bezeugten und zugeschriebenen — Werke
der behandelten Meister von Dirck Bouts bis auf
Mostaert und Jacob Cornelisz. Eine Untersuchung
über „Satirische Darstellungen des Quinten Metsys"
schließt sich an. Den Mittelpunkt des Buches
bilden die drei Aufsätze über Rembrandt. Der
erste verfolgt „Rembrar dt auf der Lateinschule"
und ist ein Beitrag zur Rekonstruktion der Geistes-
verfassung dieses problemreichsten aller Künstler.
Der zweite Aufsatz gibt eine feine Analyse der
„Blendung Simsons", und der dritte untersucht
die Entwicklung der Susannathemas und enthält
den so überaus wertvollen Hinweis auf die Zu-
sammenhänge mit Lastman; die Resultate dieser
Abhandlung sind von der Rembrandtforschung
längst als Gemeingut annektiert. Wüßten wir es
nicht, die Wärme des Ausdrucks und die Treff-
sicherheit der Charakteristik würden es uns ver-
raten, daß Valentiner sich hier auf seinem bevor-
zugten Lieblingsgebiete bewegt. Zumal die Schil-
derung der verschiedenen Entwicklungsstufen von
Rembrandts Susannafigur gehört sicher zum Schön-
sten, was in dieser Art geschrieben wurde. Der
Vortrag über die „Holländische Fliesenkeramik"
ist eine leicht lesbare Einführung in diesen Stoff
und zugleich ein Dokument für die Weite von
Valentiners Interessenkreis. Den Beschluß bilden
zwei reich illustrierte Studien über Gemälde von
Rubens und van Dyck in Amerika.
Beim Durchblättern des Buches, dessen zusam-
menhangslose Teile durch die Persönlichkeit ihres
Verfassers zu einer anziehenden Einheitlichkeit
verschmelzen, wollen sich gegen die Zuscl reibung
des einen und andern Bildes an diesen oder jenen
Meister vielleicht einige Bedenken regen; da diese
sich aber lediglich an der Hand der zu diesem
Zwecke ungenügenden Reproduktionen nicht hin-
reichend verteidigen lassen, sollen sie nicht zur
Sprache kommen. Nicht zu unterdrückenden Wider-
spruch hat in mir hingegen der einleitende Aufsatz
über die „Linienkomposition in der holländischen
Kunst" wachgerufen. Unter Linienkomposition ver-
steht Valentiner die in die Augen fallende Ver-
wendung geradliniger oder nach der Geraden ten-
dierender Umrisse und Richtungslinien innerhalb
des Bildes. Um deren Vorkommen zu erklären,
holt er weit aus und konstruiert mit Hilfe Taine-
scher Argumente eine aus geographischen und
praktischen Lebensverhältnissen abzuleitende Ver-
anlagung des holländischen Künstlerauges für die
Linienkomposition. An der Hand der durch Valen-
tiner herausgehobenen Beispiele wirkt seine Dar-
legung durchaus überzeugend. Die Auswahl der
Beispiele scheint mir nun aber nicht ohne Vorein-
genommenheit für die beabsichtigte Konstruktion
stattgefunden zu haben. Wenigstens glaube ich,
daß mit Hilfe beliebig vieler, mit erheblich weniger
Sorgfalt ausgewählter Beispiele sich die entschie-
dene Abneigung der holländischen Künstler gegen
die „Linienkomposition" erfolgreich verfechten
ließe. Auf keinen Fall scheint mir die „Linien-
komposition" für die holländische Kunst von ty-
pischer Geltung zu sein. Und ohne diese Voraus-
setzung ist das Wertvolle einer abstrahierenden
Konstruktion in der Art von Valentiners Unter-
suchung schwer einzusehen.
Eine englische Übersetzung des Buches, die vor
der deutschen Ausgabe in New York erschien, ent-
hält noch einen hier fehlenden belangreichen Auf-
satz über die Maler Govert und Dirk Camphuysen,
sowie ein Verzeichnis der in Amerika befindlichen
Gemälde Rembrandts. O. Hirschmann-
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