DR. KURT GERSTENBERG, zurzeit im felde
Die Vorstellungen und vereinheitlichenden Begriffe einer abendländischen Kultur-
gemeinschaft haben uns lange so angestrahlt, daß sie auch über die tiefe,
innere Wesensverschiedenheit der Völker hinwegtäuschten, die erst die gegenwär-
tige Krisis offenbarte. In einer Berliner Rede über die Maßstäbe zur Be-
urteilung historischer Dinge hat Troeltsch darauf hingewiesen, daß dies der ganzen
individualwissenschaftlichen Denkweise der Geschichtsschreibung entspricht. Auf
einmal sahen wir, wie die frühere Wertschätzung wegschmilzt wie das Wachs in
der Gußform, sobald die glühende Mischung aus den französischen Grundeigen-
schaften, der erhöhten Erregbarkeit, der Eitelkeit und Suggestibilität hineinzischte.
Es darf nicht wundernehmen, daß auch ein schöner Geist wie Male in diesen
Zeiten um die klare Einsicht gebracht wurde, und so mag man seine Äußerungen
auch als ein Bulletin über den Zustand des geistigen Frankreichs im Sommer 1916
mit Interesse hinnehmen. Indessen ist die Aufsatzfolge Males für die deutsche
Kunstgeschichte ziemlich belanglos, da ihr aber doch einmal die Ehre, in einer
deutschen Zeitschrift abgedruckt zu werden, widerfuhr, darf sie nicht unwider-
sprochen bleiben.
Betrachten wir das Tatsachenmaterial, das Male in seiner Abrechnung mit der
deutschen Gotik vorzubringen weiß. Male tritt auf wie ein Advokat, der in Sachen
einer Kindsunterschiebung zu plaidieren hat. Zwar ist der Fall längst geklärt, aber
Male klaubt teils veraltete, teils ungenaue Zitate zu der Behauptung zusammen,
wir hätten noch einmal Berufung eingelegt. Male sagt, Verneilh habe 1845 zuerst
die Wahrheit durchschaut, während doch schon 1841 Mertens die Isle de France
als Ursprungsland der Gotik festgestellt und Didron zuerst 1840 einen kurzen Hin-
weis gegeben hatte. Aber Male nimmt es nicht so genau und zitiert deutsche
Literatur überhaupt nur, wo er sie in seinem Sinne ausmünzen kann. So kommt
es, daß er seinen Lesern als funkelnagelneue Entdeckungen anbietet, was jedenfalls
in der deutschen Wissenschaft schon längst gebucht war. Er haspelt nun seine
Fäden ab: die Einflüsse von Burgund, von Poitou und Anjou her. Neu sind nicht
die Tatsachen, neu ist nur die Absicht, mit der sie vorgebracht werden. Verwen-
dung der gleichen konstruktiven Hilfsmittel, Übernahme von Aufrißeigentümlich-
keiten, Übereinstimmung von Grundrissen zählt er auf, um jedesmal in den Ruf
auszubrechen: wieder eine deutsche Kopie! Nur die Behandlung der elsässischen
Bauten ist eine andere, aber damit rutscht Male von seinem wissenschaftlichen
Katheder, und wir wollen den Blick zur Seite wenden.
Was ist nun damit ausgesagt über die deutsche Kunst, wenn etliche Grundrisse
übernommen sind, etliche Aufrißbesonderheiten sich wörtlich wiederholen? Nicht
viel. Die deutsche Formenphilologie hat diese Dinge verfolgt, weil es wichtig ist
zu erkennen, wie die Formensysteme wandern, aber es hat wohl niemanden ge-
geben, der nicht wüßte, daß erst nach diesen Feststellungen sich die Fragen er-
heben, worin die deutsche Kunst besteht. Es bezeugt die Lebenskraft einer Kunst,
wenn sie ununterbrochen aufzunehmen imstande ist und doch nicht tote Repliken,
sondern wieder lebendige Kunstwerke hervorbringt. Aber dagegen wendet sich
Male nun wieder mit seiner Behauptung, es mangele die Originalität, die Erfindung,
das Genie. Es liegt nicht an der deutschen Kunst, wenn Male diese Eigenschaften
nicht wahrnimmt. Im Grunde ist sein Unterfangen genau so töricht, wie wenn
jemand behaupten wollte, Mozart habe nur italienische Musik nachgemacht. Male
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Die Vorstellungen und vereinheitlichenden Begriffe einer abendländischen Kultur-
gemeinschaft haben uns lange so angestrahlt, daß sie auch über die tiefe,
innere Wesensverschiedenheit der Völker hinwegtäuschten, die erst die gegenwär-
tige Krisis offenbarte. In einer Berliner Rede über die Maßstäbe zur Be-
urteilung historischer Dinge hat Troeltsch darauf hingewiesen, daß dies der ganzen
individualwissenschaftlichen Denkweise der Geschichtsschreibung entspricht. Auf
einmal sahen wir, wie die frühere Wertschätzung wegschmilzt wie das Wachs in
der Gußform, sobald die glühende Mischung aus den französischen Grundeigen-
schaften, der erhöhten Erregbarkeit, der Eitelkeit und Suggestibilität hineinzischte.
Es darf nicht wundernehmen, daß auch ein schöner Geist wie Male in diesen
Zeiten um die klare Einsicht gebracht wurde, und so mag man seine Äußerungen
auch als ein Bulletin über den Zustand des geistigen Frankreichs im Sommer 1916
mit Interesse hinnehmen. Indessen ist die Aufsatzfolge Males für die deutsche
Kunstgeschichte ziemlich belanglos, da ihr aber doch einmal die Ehre, in einer
deutschen Zeitschrift abgedruckt zu werden, widerfuhr, darf sie nicht unwider-
sprochen bleiben.
Betrachten wir das Tatsachenmaterial, das Male in seiner Abrechnung mit der
deutschen Gotik vorzubringen weiß. Male tritt auf wie ein Advokat, der in Sachen
einer Kindsunterschiebung zu plaidieren hat. Zwar ist der Fall längst geklärt, aber
Male klaubt teils veraltete, teils ungenaue Zitate zu der Behauptung zusammen,
wir hätten noch einmal Berufung eingelegt. Male sagt, Verneilh habe 1845 zuerst
die Wahrheit durchschaut, während doch schon 1841 Mertens die Isle de France
als Ursprungsland der Gotik festgestellt und Didron zuerst 1840 einen kurzen Hin-
weis gegeben hatte. Aber Male nimmt es nicht so genau und zitiert deutsche
Literatur überhaupt nur, wo er sie in seinem Sinne ausmünzen kann. So kommt
es, daß er seinen Lesern als funkelnagelneue Entdeckungen anbietet, was jedenfalls
in der deutschen Wissenschaft schon längst gebucht war. Er haspelt nun seine
Fäden ab: die Einflüsse von Burgund, von Poitou und Anjou her. Neu sind nicht
die Tatsachen, neu ist nur die Absicht, mit der sie vorgebracht werden. Verwen-
dung der gleichen konstruktiven Hilfsmittel, Übernahme von Aufrißeigentümlich-
keiten, Übereinstimmung von Grundrissen zählt er auf, um jedesmal in den Ruf
auszubrechen: wieder eine deutsche Kopie! Nur die Behandlung der elsässischen
Bauten ist eine andere, aber damit rutscht Male von seinem wissenschaftlichen
Katheder, und wir wollen den Blick zur Seite wenden.
Was ist nun damit ausgesagt über die deutsche Kunst, wenn etliche Grundrisse
übernommen sind, etliche Aufrißbesonderheiten sich wörtlich wiederholen? Nicht
viel. Die deutsche Formenphilologie hat diese Dinge verfolgt, weil es wichtig ist
zu erkennen, wie die Formensysteme wandern, aber es hat wohl niemanden ge-
geben, der nicht wüßte, daß erst nach diesen Feststellungen sich die Fragen er-
heben, worin die deutsche Kunst besteht. Es bezeugt die Lebenskraft einer Kunst,
wenn sie ununterbrochen aufzunehmen imstande ist und doch nicht tote Repliken,
sondern wieder lebendige Kunstwerke hervorbringt. Aber dagegen wendet sich
Male nun wieder mit seiner Behauptung, es mangele die Originalität, die Erfindung,
das Genie. Es liegt nicht an der deutschen Kunst, wenn Male diese Eigenschaften
nicht wahrnimmt. Im Grunde ist sein Unterfangen genau so töricht, wie wenn
jemand behaupten wollte, Mozart habe nur italienische Musik nachgemacht. Male
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