germanische Forscher von dem Kunstvermögen ihres eigenen Volkstums entwarfen,
solcherart zu verballhornen, und an dem ideellen Gehalt dieses Strebens mit solch
schändender Hand zu rütteln, wie es Male tut; und noch keiner hatte bisher meines
Wissens die Verwegenheit, womit Male die Altäre verflossener Götter zertrümmert,
ohne dafür ein wissenschaftlich wohlbegründetes neues Ideal zu stellen. Denn das
Verneinen allein ist es wahrlich nicht, das das Schöpferische in der Wissenschaft
ausmacht. Daß in der Germanenkunst Motive vorhanden sind, vielleicht sogar vor-
herrschen, die dem Schatze anderer ethnischer Einheiten entnommen sind, be-
gründet noch keineswegs die apodiktische Behauptung Males, „die Germanen hätten
sich seit ihrem Auftauchen in der Kunstgeschichte als Nachahmer bewiesen" und
„diese Barbaren besaßen keinerlei künstlerischen Geist, sie verstanden nur zu zerstören."
Male hat sich durch sein im Fluge fallen gelassenes Kriegspamphlet noch keines-
wegs das Recht erworben, über die ehrlichen Bestrebungen eines Sophus Müller,
eines Salin oder eines Arne so kurzerhand den Stab zu brechen, — und dabei
ist keiner der genannten Gelehrten ein Deutscher!
Wenn Male sich irgendwie ernstlich mit diesen Fragen beschäftigt hätte, so
müßte er selbst über die Naivetät lächeln, womit er dem ganzen Probleme gegen-
übersteht. Hat er denn je schon darüber nachgedacht, wie die Germanenkunst,
ebensowohl wie die Siberische, das nordische Ideal des Graphischen,
gegenüber dem plastischen des Südens vertritt? Daß es also ebensowohl
ein berechtigtes Prinzip, dasjenige des Dekorativen, darstellt, wie der Süden
Europas am Konstruktiven haftet, und solcherart ein Ausdruck des äußeren
Rhythmus gegenüber dem inneren Rhythmus der Mittelmeergebiete ist? Und
hat er in weiterer Folge und Differenzierung des nordischen Prinzipes darüber nach-
gesonnen, wie in diesem Kunstgebiete gegen Westen zu mehr die imaginative
Linienwirkung, also die graphische Ornamentierung im strengeren Sinne, vor-
herrscht, während der asiatische Norden mit den Kanten und Schrägflächen seiner
Kunstgebilde selbst im Graphischen auf Flächenwirkung hin arbeitet, wozu sich in
den mittleren Strichen ein kräftiges Drängen nach Kolorismus gesellt? Und daß
diese beiden nordischen Ströme, der eine über Schweden herunter, der andere auf
der breiten Heerstraße nördlich des Alpengebietes, ineinander flossen und zum
glücklichen Lebensprinzipe der Völker deutscher Zunge wurden: zur soliden Um-
schriebenheit des Menschendaseins einesteils und doch wieder zur farbenfrohen
Imaginationskraft des Einzelnen andernteils? Das sind doch Kulturwerte, die zu
unterschlagen Herr Male ebensowenig berechtigt ist, wie die Namen und das Wirken
so und so vieler Gelehrter einer ihm gegenüberstehenden Nation.
Wenn Emile Male gerecht sein wollte, so dürfte er höchstens sagen, daß diese
Kunst- und Lebensprinzipien — wenn ihm persönlich auch unsympathisch — trotz-
dem vorhanden sind, und das wäre dann seine Geschmackssache; eine treffende
Belehrung dürfte ihm dann durch seinen großherzigen Landsmann, Hippolyte Taine
werden, der da spricht: „Die wahre Wissenschaft ächtet nicht und verzeiht nicht;
sie stellt einfach fest und erklärt. Ihre Sympathie ergießt sich über alle Kunst-
formen und -schulen, auch über jene, die sich am meisten entgegengesetzt er-
scheinen; sie nimmt sie an als ebensoviele Erscheinungsformen des menschlichen
Geistes; je zahlreicher und widersprechender nun diese sind, sie zeigen nur von
um so neueren und mehreren Seiten den Menschengeist."
So hätte Emile Male sprechen sollen.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, X. Jahrg. 1917, Heft 4
143
solcherart zu verballhornen, und an dem ideellen Gehalt dieses Strebens mit solch
schändender Hand zu rütteln, wie es Male tut; und noch keiner hatte bisher meines
Wissens die Verwegenheit, womit Male die Altäre verflossener Götter zertrümmert,
ohne dafür ein wissenschaftlich wohlbegründetes neues Ideal zu stellen. Denn das
Verneinen allein ist es wahrlich nicht, das das Schöpferische in der Wissenschaft
ausmacht. Daß in der Germanenkunst Motive vorhanden sind, vielleicht sogar vor-
herrschen, die dem Schatze anderer ethnischer Einheiten entnommen sind, be-
gründet noch keineswegs die apodiktische Behauptung Males, „die Germanen hätten
sich seit ihrem Auftauchen in der Kunstgeschichte als Nachahmer bewiesen" und
„diese Barbaren besaßen keinerlei künstlerischen Geist, sie verstanden nur zu zerstören."
Male hat sich durch sein im Fluge fallen gelassenes Kriegspamphlet noch keines-
wegs das Recht erworben, über die ehrlichen Bestrebungen eines Sophus Müller,
eines Salin oder eines Arne so kurzerhand den Stab zu brechen, — und dabei
ist keiner der genannten Gelehrten ein Deutscher!
Wenn Male sich irgendwie ernstlich mit diesen Fragen beschäftigt hätte, so
müßte er selbst über die Naivetät lächeln, womit er dem ganzen Probleme gegen-
übersteht. Hat er denn je schon darüber nachgedacht, wie die Germanenkunst,
ebensowohl wie die Siberische, das nordische Ideal des Graphischen,
gegenüber dem plastischen des Südens vertritt? Daß es also ebensowohl
ein berechtigtes Prinzip, dasjenige des Dekorativen, darstellt, wie der Süden
Europas am Konstruktiven haftet, und solcherart ein Ausdruck des äußeren
Rhythmus gegenüber dem inneren Rhythmus der Mittelmeergebiete ist? Und
hat er in weiterer Folge und Differenzierung des nordischen Prinzipes darüber nach-
gesonnen, wie in diesem Kunstgebiete gegen Westen zu mehr die imaginative
Linienwirkung, also die graphische Ornamentierung im strengeren Sinne, vor-
herrscht, während der asiatische Norden mit den Kanten und Schrägflächen seiner
Kunstgebilde selbst im Graphischen auf Flächenwirkung hin arbeitet, wozu sich in
den mittleren Strichen ein kräftiges Drängen nach Kolorismus gesellt? Und daß
diese beiden nordischen Ströme, der eine über Schweden herunter, der andere auf
der breiten Heerstraße nördlich des Alpengebietes, ineinander flossen und zum
glücklichen Lebensprinzipe der Völker deutscher Zunge wurden: zur soliden Um-
schriebenheit des Menschendaseins einesteils und doch wieder zur farbenfrohen
Imaginationskraft des Einzelnen andernteils? Das sind doch Kulturwerte, die zu
unterschlagen Herr Male ebensowenig berechtigt ist, wie die Namen und das Wirken
so und so vieler Gelehrter einer ihm gegenüberstehenden Nation.
Wenn Emile Male gerecht sein wollte, so dürfte er höchstens sagen, daß diese
Kunst- und Lebensprinzipien — wenn ihm persönlich auch unsympathisch — trotz-
dem vorhanden sind, und das wäre dann seine Geschmackssache; eine treffende
Belehrung dürfte ihm dann durch seinen großherzigen Landsmann, Hippolyte Taine
werden, der da spricht: „Die wahre Wissenschaft ächtet nicht und verzeiht nicht;
sie stellt einfach fest und erklärt. Ihre Sympathie ergießt sich über alle Kunst-
formen und -schulen, auch über jene, die sich am meisten entgegengesetzt er-
scheinen; sie nimmt sie an als ebensoviele Erscheinungsformen des menschlichen
Geistes; je zahlreicher und widersprechender nun diese sind, sie zeigen nur von
um so neueren und mehreren Seiten den Menschengeist."
So hätte Emile Male sprechen sollen.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, X. Jahrg. 1917, Heft 4
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