PROF.DR. 0.WULFF, KUSTOS AM KAISER FRIEDRICH-
MUSEUM IN BERLIN Mit sechs Abbildungen auf einer Tafel
Was sich für ihn auf dem Gebiet der vorchristlichen germanischen Kunst-
übung ergeben hat, findet Male auch in der Folge der Entwicklung immer
wieder bestätigt: die germanischen Völker erscheinen ihm als unselbständige Nach-
ahmer entlehnter Kunstformen des christlichen Orients wie vorher der persischen
und skythischen Zierkunst. Mit diesen Ausführungen fordert der französische For-
scher zunächst diejenigen seiner deutschen Fachgenossen in die Schranken, deren
Arbeit sich vorzugsweise auf die altchristliche und frühmittelalterliche Kunst ein-
gestellt hat. Wenn ich deshalb hier zur Erwiderung das Wort nehme, so soll sich
diese im wesentlichen auf die bedeutendste hier von ihm aufgerührte Streitfrage
beschränken.
Daß seit dem 4. Jahrhundert ein breiter Strom christlich-orientalischer Kunst-
formen das Abendland, vor allem durch Vermittlung der Klosterkunst, über Ober-
italien und Gallien, die Rhone aufwärts den Rhein entlang und bis nach Irland über-
flutet und auch die germanische Kunstübung ergriffen hat und daß dieser Zufluß,
zumal in der Buchmalerei, bis in die karolingische Zeit fortdauert, ist von deut-
schen Gelehrten längst anerkannt und noch neuerdings mit großer Entschiedenheit
verfochten worden (Anm. 1). Auf die merovingischen Handschriften brauche ich
am wenigsten einzugehen, wenngleich in ihrem Buchschmuck neben neuerem Leih-
gut wohl auch Überbleibsel der mitteleuropäischen Völkerwanderungskunst fort-
leben (Anm. 2). Immerhin kämpft Male hier in der Hauptsache mit Windmühlen,
während er der unumstößlichen Tatsache so gut wie gar nicht Rechnung trägt,
daß die germanische Kunst Norddeutschlands noch vor dessen Bekehrung ein mit
der skandinavischen gemeinsames Tierornament besessen und dieses in durchaus
selbständiger und folgerichtiger Stilbildung zu einer in reichen, phantastischen Ver-
schlingungen wuchernden, noch in christlicher Zeit fortlebenden Bandornamentik
entwickelt hat (Anm. 3). Daran muß ich schon deshalb erinnern, weil dieser
Ornamentstil nicht bedeutungslos ist für diejenige Frage, über die ich mich mit
meinem französischen Fachgenossen zu verständigen versuchen will: — für die
Ursprungsfrage der sogenannten longobardischen Kunst. Die Hypothese
von der rein germanischen Herkunft der letzteren sei ein Lieblingskapitel der
deutschen Kunstforschung, heißt es bei Male, — sie sei mit Zähigkeit festgehalten
und noch neuerdings wieder mit erstaunlicher Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht
worden. Leider fehlen dafür alle literarischen Belege wie für die meisten und
stärksten Behauptungen bei Male. Sehen wir uns aber in der einschlägigen deut-
schen Fachliteratur um, so kommen wir viel eher zum gegenteiligen Ergebnis.
Mit Ausnahme des Begründers dieser Anschauung (Anm. 4) finde ich kaum einen
deutschen Forscher, der ihr nicht einen kräftigen Vorbehalt, wenn nicht gar ent-
schiedenen Widerspruch, entgegengesetzt hätte. Verfochten hat sie in jüngster
Zeit mit neuem Nachdruck nur derselbe deutsch-schweizer Gelehrte (Anm. 5), und
auch er hauptsächlich, soweit es sich um die Entstehung des eigentlichen Band-
werks der schönen Marmorplatten handelt, mit denen der Altaraufbau der italie-
nischen Kirchen des 8. und 9. Jahrhunderts und verwandte Denkmäler der kirch-
lichen Inneneinrichtung aus der Folgezeit daselbst und in den Nachbarländern
ausgestattet sind. In einer gewissen Anzahl anderer ornamentaler Motive, wie die
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MUSEUM IN BERLIN Mit sechs Abbildungen auf einer Tafel
Was sich für ihn auf dem Gebiet der vorchristlichen germanischen Kunst-
übung ergeben hat, findet Male auch in der Folge der Entwicklung immer
wieder bestätigt: die germanischen Völker erscheinen ihm als unselbständige Nach-
ahmer entlehnter Kunstformen des christlichen Orients wie vorher der persischen
und skythischen Zierkunst. Mit diesen Ausführungen fordert der französische For-
scher zunächst diejenigen seiner deutschen Fachgenossen in die Schranken, deren
Arbeit sich vorzugsweise auf die altchristliche und frühmittelalterliche Kunst ein-
gestellt hat. Wenn ich deshalb hier zur Erwiderung das Wort nehme, so soll sich
diese im wesentlichen auf die bedeutendste hier von ihm aufgerührte Streitfrage
beschränken.
Daß seit dem 4. Jahrhundert ein breiter Strom christlich-orientalischer Kunst-
formen das Abendland, vor allem durch Vermittlung der Klosterkunst, über Ober-
italien und Gallien, die Rhone aufwärts den Rhein entlang und bis nach Irland über-
flutet und auch die germanische Kunstübung ergriffen hat und daß dieser Zufluß,
zumal in der Buchmalerei, bis in die karolingische Zeit fortdauert, ist von deut-
schen Gelehrten längst anerkannt und noch neuerdings mit großer Entschiedenheit
verfochten worden (Anm. 1). Auf die merovingischen Handschriften brauche ich
am wenigsten einzugehen, wenngleich in ihrem Buchschmuck neben neuerem Leih-
gut wohl auch Überbleibsel der mitteleuropäischen Völkerwanderungskunst fort-
leben (Anm. 2). Immerhin kämpft Male hier in der Hauptsache mit Windmühlen,
während er der unumstößlichen Tatsache so gut wie gar nicht Rechnung trägt,
daß die germanische Kunst Norddeutschlands noch vor dessen Bekehrung ein mit
der skandinavischen gemeinsames Tierornament besessen und dieses in durchaus
selbständiger und folgerichtiger Stilbildung zu einer in reichen, phantastischen Ver-
schlingungen wuchernden, noch in christlicher Zeit fortlebenden Bandornamentik
entwickelt hat (Anm. 3). Daran muß ich schon deshalb erinnern, weil dieser
Ornamentstil nicht bedeutungslos ist für diejenige Frage, über die ich mich mit
meinem französischen Fachgenossen zu verständigen versuchen will: — für die
Ursprungsfrage der sogenannten longobardischen Kunst. Die Hypothese
von der rein germanischen Herkunft der letzteren sei ein Lieblingskapitel der
deutschen Kunstforschung, heißt es bei Male, — sie sei mit Zähigkeit festgehalten
und noch neuerdings wieder mit erstaunlicher Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht
worden. Leider fehlen dafür alle literarischen Belege wie für die meisten und
stärksten Behauptungen bei Male. Sehen wir uns aber in der einschlägigen deut-
schen Fachliteratur um, so kommen wir viel eher zum gegenteiligen Ergebnis.
Mit Ausnahme des Begründers dieser Anschauung (Anm. 4) finde ich kaum einen
deutschen Forscher, der ihr nicht einen kräftigen Vorbehalt, wenn nicht gar ent-
schiedenen Widerspruch, entgegengesetzt hätte. Verfochten hat sie in jüngster
Zeit mit neuem Nachdruck nur derselbe deutsch-schweizer Gelehrte (Anm. 5), und
auch er hauptsächlich, soweit es sich um die Entstehung des eigentlichen Band-
werks der schönen Marmorplatten handelt, mit denen der Altaraufbau der italie-
nischen Kirchen des 8. und 9. Jahrhunderts und verwandte Denkmäler der kirch-
lichen Inneneinrichtung aus der Folgezeit daselbst und in den Nachbarländern
ausgestattet sind. In einer gewissen Anzahl anderer ornamentaler Motive, wie die
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