erstarkenden lateinischen Rasse, die ein so ganz anderes Gesicht tragen als die
vorchristliche Kunst Italiens, — oder etwa etruskische Neuschöpfungen? Die höhere
Kunst im alten Longobardenreich, und sie war zweifellos viel reicher als uns die
dürftigen Trümmer, wie z. B. das Ciborium von S. Ambrogio oder der Figurenfries
von S. Maria del Valle in Cividale, ahnen lassen, mag immerhin noch in einer ziem-
lich barbarischen Formensprache oder wie der letztere in viel stärkerer Abhängig-
keit von ihren griechischen Vorbildern befangen geblieben sein. Damit aber ist
noch lange nicht bewiesen, daß es diesem Stamme oder der gesamten germani-
schen Rasse an jedem eigenartigen Kunstwollen fehlte. Vielmehr gibt das longo-
bardische Kunstschaffen gerade die wertvollsten Aufschlüsse über seine besondere
Richtung. Und hier ersteht mir ein Zeuge aus der französischen Wissenschaft, —
nicht etwa Courajod oder ein anderer von Male so zuversichtlich bekämpfter Ver-
treter der Anschauung, daß die germanische Phantasie auch in der französischen
Kunst des Mittelalters die wahrhaft treibende Kraft gewesen sei, — sondern ein
Psychologe.
Theodule Ribot hat in seinen grundlegenden Untersuchungen über die künstle-
rische Phantasietätigkeit zwei typische Hauptrichtungen derselben festgestellt und
mit den Namen der „plastischen" und der „zerfließenden Einbildungskraft" (imagi-
nation plastique und imagination diffluente) belegt (Anm. 29). Da von den ent-
sprechenden deutschen Ausdrücken der eine für uns einen engeren, der andere
einen zu unbestimmten Begriff bezeichnet, will ich hier lieber, wie schon an an-
derer Stelle (Anm. 30), von „anschaulicher" und von „schweifender Ein-
bildungskraft" sprechen. Für die erstere sind die Anschaulichkeit der Vor-
stellungen und die gegenständlichen Beziehungen ihrer assoziativen Verbindungen
vorzugsweise maßgebend, während deren Gefühlsbetonung schwach bleibt. Die
bildende Kunst bietet ihr daher das weiteste Feld der Betätigung, doch greift sie
auch in die Dichtung und sogar in die Musik hinüber. Die schweifende Einbil-
dungskraft arbeitet mit weniger klaren Anschauungsbildern, deren Verknüpfung sich
unter der Vorherrschaft eines viel stärkeren subjektiven Gefühlslebens vollzieht,
aber eine losere und einfachere, wenngleich sehr mannigfaltige, Zusammensetzung
gewinnt. Ihr Hauptgebiet umfaßt die musischen Künste, doch ist sie von den
bildenden keineswegs ausgeschlossen, — zumal von der Ornamentik.
„War in der dichterischen Sprache das bedeutungsvolle Wort, der wichtige Be-
griff oder Gedanke die Unterlage aller Formengebung usw., so sind es in der Kunst,
die zunächst nur ornamental schafft, gewisse einfache Motive, durch deren Ver-
flechtung und Durchdringung der Charakter der urzeitlichen Ornamentik bestimmt
ist usw. Aber welche Mannigfaltigkeit wird erzielt durch die Art ihrer Verwen-
dung usw. So entstehen phantastisch wirre Muster, deren Rätsel zum Nachgrübeln
reizen, deren Gerinnsel sich zu meiden, zu suchen scheinen, deren Bestandteile
gleichsam empfindungsbegabt, in lebendig leidenschaftlicher Bewegung usw. Sinn
und Auge fesseln." So hat ein deutscher Geschichtsforscher fast ein Jahrzehnt vor
dem Erscheinen der psychologischen Untersuchungen von Ribot die germanischen
Kunstanfänge gekennzeichnet (Anm. 31). Ist nicht mit diesen Worten das Vor-
walten der schweifenden Phantasiefähigkeit im frühesten Kunstschaffen der Ger-
manen klar ausgesprochen? Auch hat Lamprecht bereits darauf hingewiesen, daß
der gleiche Gestaltungstrieb in der weiteren Entwicklung der deutschen Kunst
immer wieder zum Durchbruch kommt, in der Tierornamentik der Völkerwande-
rungszeit so gut wie in der romanischen Zierkunst, in die die aus jener entstehende
mitteleuropäische Bandornamentik mit ihren Ausläufern einmündet. Dieselbe Er-
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vorchristliche Kunst Italiens, — oder etwa etruskische Neuschöpfungen? Die höhere
Kunst im alten Longobardenreich, und sie war zweifellos viel reicher als uns die
dürftigen Trümmer, wie z. B. das Ciborium von S. Ambrogio oder der Figurenfries
von S. Maria del Valle in Cividale, ahnen lassen, mag immerhin noch in einer ziem-
lich barbarischen Formensprache oder wie der letztere in viel stärkerer Abhängig-
keit von ihren griechischen Vorbildern befangen geblieben sein. Damit aber ist
noch lange nicht bewiesen, daß es diesem Stamme oder der gesamten germani-
schen Rasse an jedem eigenartigen Kunstwollen fehlte. Vielmehr gibt das longo-
bardische Kunstschaffen gerade die wertvollsten Aufschlüsse über seine besondere
Richtung. Und hier ersteht mir ein Zeuge aus der französischen Wissenschaft, —
nicht etwa Courajod oder ein anderer von Male so zuversichtlich bekämpfter Ver-
treter der Anschauung, daß die germanische Phantasie auch in der französischen
Kunst des Mittelalters die wahrhaft treibende Kraft gewesen sei, — sondern ein
Psychologe.
Theodule Ribot hat in seinen grundlegenden Untersuchungen über die künstle-
rische Phantasietätigkeit zwei typische Hauptrichtungen derselben festgestellt und
mit den Namen der „plastischen" und der „zerfließenden Einbildungskraft" (imagi-
nation plastique und imagination diffluente) belegt (Anm. 29). Da von den ent-
sprechenden deutschen Ausdrücken der eine für uns einen engeren, der andere
einen zu unbestimmten Begriff bezeichnet, will ich hier lieber, wie schon an an-
derer Stelle (Anm. 30), von „anschaulicher" und von „schweifender Ein-
bildungskraft" sprechen. Für die erstere sind die Anschaulichkeit der Vor-
stellungen und die gegenständlichen Beziehungen ihrer assoziativen Verbindungen
vorzugsweise maßgebend, während deren Gefühlsbetonung schwach bleibt. Die
bildende Kunst bietet ihr daher das weiteste Feld der Betätigung, doch greift sie
auch in die Dichtung und sogar in die Musik hinüber. Die schweifende Einbil-
dungskraft arbeitet mit weniger klaren Anschauungsbildern, deren Verknüpfung sich
unter der Vorherrschaft eines viel stärkeren subjektiven Gefühlslebens vollzieht,
aber eine losere und einfachere, wenngleich sehr mannigfaltige, Zusammensetzung
gewinnt. Ihr Hauptgebiet umfaßt die musischen Künste, doch ist sie von den
bildenden keineswegs ausgeschlossen, — zumal von der Ornamentik.
„War in der dichterischen Sprache das bedeutungsvolle Wort, der wichtige Be-
griff oder Gedanke die Unterlage aller Formengebung usw., so sind es in der Kunst,
die zunächst nur ornamental schafft, gewisse einfache Motive, durch deren Ver-
flechtung und Durchdringung der Charakter der urzeitlichen Ornamentik bestimmt
ist usw. Aber welche Mannigfaltigkeit wird erzielt durch die Art ihrer Verwen-
dung usw. So entstehen phantastisch wirre Muster, deren Rätsel zum Nachgrübeln
reizen, deren Gerinnsel sich zu meiden, zu suchen scheinen, deren Bestandteile
gleichsam empfindungsbegabt, in lebendig leidenschaftlicher Bewegung usw. Sinn
und Auge fesseln." So hat ein deutscher Geschichtsforscher fast ein Jahrzehnt vor
dem Erscheinen der psychologischen Untersuchungen von Ribot die germanischen
Kunstanfänge gekennzeichnet (Anm. 31). Ist nicht mit diesen Worten das Vor-
walten der schweifenden Phantasiefähigkeit im frühesten Kunstschaffen der Ger-
manen klar ausgesprochen? Auch hat Lamprecht bereits darauf hingewiesen, daß
der gleiche Gestaltungstrieb in der weiteren Entwicklung der deutschen Kunst
immer wieder zum Durchbruch kommt, in der Tierornamentik der Völkerwande-
rungszeit so gut wie in der romanischen Zierkunst, in die die aus jener entstehende
mitteleuropäische Bandornamentik mit ihren Ausläufern einmündet. Dieselbe Er-
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