kenntnis gibt uns auch den Schlüssel zum Verständnis der longobardischen orna-
mentalen Stilbildung an die Hand. Es ist das lebhafte Verlangen nach rhythmi-
scher Bewegung und subjektivem Gefühlsausdruck, was in Italien die Umbildung
der entlehnten spätantiken und orientalischen Motive bewirkt hat, — das Über-
gewicht der schweifenden Einbildungskraft im germanischen Kunstwollen. Auf
ihm beruht andrerseits die Überlegenheit des deutschen Volkstums im musikali-
schen Schaffen, die auch Male uns schwerlich bestreiten kann. Dagegen wollen
wir ihm willig zugestehen, daß die germanische Phantasie von Haus aus nach der
Seite der anschaulichen Einbildungskraft weniger reich begabt ist und daß sich
daraus die häufigen Entlehnungen und die Anlehnung erklären, die sie im Mittel-
alter anfangs bei der altchristlichen und byzantinischen und später bei der franzö-
sischen Kunst sucht. Allein, damit ist nicht gesagt, daß es ihr an jeder Eigenart
auf diesem Gebiet fehlt. Vielmehr weiß sie die fremden Vorbilder mit ihrem
starken Ausdrucksstreben tiefer zu beseelen. So gewinnen ihre Schöpfungen, —
ich denke vor allem an die Stiftergestalten des Naumburger Domes — schon in
den Anfängen der Gotik etwas, was den mehr im Typischen beharrenden, wenn
auch noch so herrlichen, gleichzeitigen französischen Bildwerken nicht im gleichen
Maße eignet: — Individualität und persönliches Leben. Und das gibt auch der
reifen deutschen Gotik in den darstellenden Künsten ihr eigentümliches Gesicht.
Erblüht sie während des hohen Mittelalters in gesonderten Kunstkreisen, deren
Beziehung zu gewissen französischen Schulen noch deutlich erkennbar bleibt durch
das Schaffen einzelner namenloser Meister, so vollzieht sich in der Folge zwischen
ihnen ein Ausgleich, der mit der wachsenden Kultur auch ein allgemeines Er-
starken der anschaulichen Einbildungskraft herbeiführt. Denn in jeder Rasse sind
beide Phantasietypen jederzeit vertreten, ihre Entfaltung aber wird in hohem Grade
durch die äußeren allgemeinen Voraussetzungen bedingt. Und so setzt um Mitte
des 15. Jahrhunderts jener Aufschwung der deutschen Kunst ein, der in der Graphik,
Malerei und Holzplastik ihre Eigenart zur Vollreife erhebt, die den Vergleich mit
der italienischen und altniederländischen, geschweige denn mit der gleichzeitigen
französischen Kunst an selbständiger Kraft der Gestaltung nicht zu befürchten hat.
In Dürers und Grünewalds Schöpfungen durchdringen sich schweifende und an-
schauliche Einbildungskraft auf das fruchtbarste, und in Holbein besitzen wir gar
einen Großmeister von stärkster anschaulicher, ja geradezu „plastischer" Phantasie-
begabung. Erst die allzu bereitwillige Hingabe an die südländische Formenschön-
heit wird der deutschon Renaissance verhängnisvoll und führt zur „Krisis der
deutschen Kunst im 16. Jahrhundert", die wiederum ein deutscher Forscher, — ohne
Ribots Gesichtspunkt aufzunehmen und doch - — ganz im Sinne desselben zu er-
klären gewußt hat (Anm. 32).
Ich habe versucht, die von Male aufgerollte Frage sachlich zu beantworten.
Hätte ich zur Sache nichts beizutragen gehabt, so hätte ich zu seinen blinden Aus-
fällen geschwiegen. „Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun",
lautet ein bekannter Ausspruch Richard Wagners. Meine Aufgabe ist erfüllt und
ich darf das Wort einem anderen Fachgenossen überlassen, der dem französischen
Forscher eine sachliche Antwort zu geben hat.
158
mentalen Stilbildung an die Hand. Es ist das lebhafte Verlangen nach rhythmi-
scher Bewegung und subjektivem Gefühlsausdruck, was in Italien die Umbildung
der entlehnten spätantiken und orientalischen Motive bewirkt hat, — das Über-
gewicht der schweifenden Einbildungskraft im germanischen Kunstwollen. Auf
ihm beruht andrerseits die Überlegenheit des deutschen Volkstums im musikali-
schen Schaffen, die auch Male uns schwerlich bestreiten kann. Dagegen wollen
wir ihm willig zugestehen, daß die germanische Phantasie von Haus aus nach der
Seite der anschaulichen Einbildungskraft weniger reich begabt ist und daß sich
daraus die häufigen Entlehnungen und die Anlehnung erklären, die sie im Mittel-
alter anfangs bei der altchristlichen und byzantinischen und später bei der franzö-
sischen Kunst sucht. Allein, damit ist nicht gesagt, daß es ihr an jeder Eigenart
auf diesem Gebiet fehlt. Vielmehr weiß sie die fremden Vorbilder mit ihrem
starken Ausdrucksstreben tiefer zu beseelen. So gewinnen ihre Schöpfungen, —
ich denke vor allem an die Stiftergestalten des Naumburger Domes — schon in
den Anfängen der Gotik etwas, was den mehr im Typischen beharrenden, wenn
auch noch so herrlichen, gleichzeitigen französischen Bildwerken nicht im gleichen
Maße eignet: — Individualität und persönliches Leben. Und das gibt auch der
reifen deutschen Gotik in den darstellenden Künsten ihr eigentümliches Gesicht.
Erblüht sie während des hohen Mittelalters in gesonderten Kunstkreisen, deren
Beziehung zu gewissen französischen Schulen noch deutlich erkennbar bleibt durch
das Schaffen einzelner namenloser Meister, so vollzieht sich in der Folge zwischen
ihnen ein Ausgleich, der mit der wachsenden Kultur auch ein allgemeines Er-
starken der anschaulichen Einbildungskraft herbeiführt. Denn in jeder Rasse sind
beide Phantasietypen jederzeit vertreten, ihre Entfaltung aber wird in hohem Grade
durch die äußeren allgemeinen Voraussetzungen bedingt. Und so setzt um Mitte
des 15. Jahrhunderts jener Aufschwung der deutschen Kunst ein, der in der Graphik,
Malerei und Holzplastik ihre Eigenart zur Vollreife erhebt, die den Vergleich mit
der italienischen und altniederländischen, geschweige denn mit der gleichzeitigen
französischen Kunst an selbständiger Kraft der Gestaltung nicht zu befürchten hat.
In Dürers und Grünewalds Schöpfungen durchdringen sich schweifende und an-
schauliche Einbildungskraft auf das fruchtbarste, und in Holbein besitzen wir gar
einen Großmeister von stärkster anschaulicher, ja geradezu „plastischer" Phantasie-
begabung. Erst die allzu bereitwillige Hingabe an die südländische Formenschön-
heit wird der deutschon Renaissance verhängnisvoll und führt zur „Krisis der
deutschen Kunst im 16. Jahrhundert", die wiederum ein deutscher Forscher, — ohne
Ribots Gesichtspunkt aufzunehmen und doch - — ganz im Sinne desselben zu er-
klären gewußt hat (Anm. 32).
Ich habe versucht, die von Male aufgerollte Frage sachlich zu beantworten.
Hätte ich zur Sache nichts beizutragen gehabt, so hätte ich zu seinen blinden Aus-
fällen geschwiegen. „Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun",
lautet ein bekannter Ausspruch Richard Wagners. Meine Aufgabe ist erfüllt und
ich darf das Wort einem anderen Fachgenossen überlassen, der dem französischen
Forscher eine sachliche Antwort zu geben hat.
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