gut kann man den Querschnitt der gotischen Kathedrale orientalisch nennen, weil
er basilikal ist. Die Hauptsache ist doch, daß nichts den Kölner Chorbildungen
vom Anfang des 13. Jahrhunderts Vergleichbares in der Lombardei zu finden ist.
Und weiter: wenn der Meister des Straßburger Langhauses von St. Denis ausgeht,
so tut er damit vollkommen dasselbe, was seine französischen Zeitgenossen taten:
auch sie hielten sich allermeist an dasselbe glänzende Vorbild. Und so ist es
natürlich immer und überall in solchen großen Zusammenhängen. Jeder steht auf
den Schultern seiner Vorgänger, und die Frage kann nur sein, ob und wie weit
er über sie hinaus gelangt. In dieser Hinsicht habe ich zum Thema der deutschen
Gotik weiter unten noch einiges zu sagen.
Nun ein paar Einzelheiten. Das Urteil über die Kunst der Völkerwanderungszeit
und der Merowinger muß ich Berufeneren überlassen. Immerhin hat mir, dem
Laien auf diesem Gebiet, die durchsichtige Bescheidenheit Males Freude gemacht.
Die „romanischen Gallier", auch „reine Franzosen" genannt, haben immerhin auch
nichts anderes fertig gebracht, als die Art und Kunst der wenigen eingedrungenen
„Barbaren" weiter nachzuahmen. Oder sollte es im 6. und 7. Jahrhundert eine
autochtone französische Kunst gegeben haben, die wir in Deutschland bisher über-
sahen?! Wir sind bereit, uns belehren zu lassen. Es zeugt auch hier wieder von
recht harmloser Genügsamkeit, daß die ehrwürdige Gelahrtheit eines Fustel de
Coulanges aufgeboten werden muß, um die Boches zu bekämpfen. Herr Male
hätte sich doch vorsichtigerweise erst noch einmal bei seinen französischen Kol-
e[gen von der Geschichte erkundigen müssen, wie man heute über den Genannten
urteilt. Vielleicht hätte er dann doch dem Satz vom unveränderten Charakter der
gallischen Rasse eine etwas andere Fassung .gegeben.
Aber wenden wir uns der Karolingischen Kunst zu. Da steht es doch so: über
den Anteil der einzelnen Teile des großen Reichs an der Entwickelung der Bau-
kunst wissen wir sehr wenig. Sicher hatte die westfränkische Hälfte ihrer älteren
Geschichte zufolge mehr zu bedeuten, als die ostfränkische. Welcher Rasse aber
die eigentlich schöpferischen Geister waren, darüber läßt sich vorläufig gar nichts
sagen. Der einzige aus dem Kreise des großen Kaisers, von dessen Bauverstand
ausdrücklich die Rede ist, Einhard, war sicher kein Gallier. So ist es denn auch
noch ganz unsicher, wo und wie die doppelchörige Anlage, wo und wie die so-
genannten Westwerke sich bildeten. Effmanns höchst interessantes Buch über
Centula1) kennt Male natürlich nicht. Darnach hat Centula eben gerade nicht zwei
einander im wesentlichen entsprechende Chöre, sondern an der Westseite eine
besondere Salvatorkirche, die weit eher als Westwerk zu bezeichnen ist, gehabt.
Damit werden alle Schlüsse Males hinfällig. Es ist natürlich trotzdem möglich,
daß die erste wirklich doppelchörige Anlage im Westfrankenreich stand. Das ändert
aber nichts an der Tatsache, daß die Baubewegung im ganzen karolingischen Reich
um 800, soweit wir heute wissen, einheitlich war, und daß an ihr das Ostfranken-
reich, also Deutschland, hervorragenden schöpferischen Anteil hatte. Die deutsche
Forschung hat sich mit dieser Baubewegung in neuester Zeit eingehender beschäf-
tigt, ohne jede Spur von Voreingenommenheit, wie namentlich Effmanns aus-
gezeichnete Arbeiten beweisen. Und sie wird so fortfahren. Emile Male hätte
besser getan, sich um diese Dinge erst einmal etwas genauer zu kümmern. Mit
seinen höchst oberflächlichen Bemerkungen rührt er überhaupt noch nicht einmal
an die wirklichen Probleme, die uns die Geschichte der karolingischen Baukunst
(1) W. Effmann, Centula-St. Riquier. Münster 1912.
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er basilikal ist. Die Hauptsache ist doch, daß nichts den Kölner Chorbildungen
vom Anfang des 13. Jahrhunderts Vergleichbares in der Lombardei zu finden ist.
Und weiter: wenn der Meister des Straßburger Langhauses von St. Denis ausgeht,
so tut er damit vollkommen dasselbe, was seine französischen Zeitgenossen taten:
auch sie hielten sich allermeist an dasselbe glänzende Vorbild. Und so ist es
natürlich immer und überall in solchen großen Zusammenhängen. Jeder steht auf
den Schultern seiner Vorgänger, und die Frage kann nur sein, ob und wie weit
er über sie hinaus gelangt. In dieser Hinsicht habe ich zum Thema der deutschen
Gotik weiter unten noch einiges zu sagen.
Nun ein paar Einzelheiten. Das Urteil über die Kunst der Völkerwanderungszeit
und der Merowinger muß ich Berufeneren überlassen. Immerhin hat mir, dem
Laien auf diesem Gebiet, die durchsichtige Bescheidenheit Males Freude gemacht.
Die „romanischen Gallier", auch „reine Franzosen" genannt, haben immerhin auch
nichts anderes fertig gebracht, als die Art und Kunst der wenigen eingedrungenen
„Barbaren" weiter nachzuahmen. Oder sollte es im 6. und 7. Jahrhundert eine
autochtone französische Kunst gegeben haben, die wir in Deutschland bisher über-
sahen?! Wir sind bereit, uns belehren zu lassen. Es zeugt auch hier wieder von
recht harmloser Genügsamkeit, daß die ehrwürdige Gelahrtheit eines Fustel de
Coulanges aufgeboten werden muß, um die Boches zu bekämpfen. Herr Male
hätte sich doch vorsichtigerweise erst noch einmal bei seinen französischen Kol-
e[gen von der Geschichte erkundigen müssen, wie man heute über den Genannten
urteilt. Vielleicht hätte er dann doch dem Satz vom unveränderten Charakter der
gallischen Rasse eine etwas andere Fassung .gegeben.
Aber wenden wir uns der Karolingischen Kunst zu. Da steht es doch so: über
den Anteil der einzelnen Teile des großen Reichs an der Entwickelung der Bau-
kunst wissen wir sehr wenig. Sicher hatte die westfränkische Hälfte ihrer älteren
Geschichte zufolge mehr zu bedeuten, als die ostfränkische. Welcher Rasse aber
die eigentlich schöpferischen Geister waren, darüber läßt sich vorläufig gar nichts
sagen. Der einzige aus dem Kreise des großen Kaisers, von dessen Bauverstand
ausdrücklich die Rede ist, Einhard, war sicher kein Gallier. So ist es denn auch
noch ganz unsicher, wo und wie die doppelchörige Anlage, wo und wie die so-
genannten Westwerke sich bildeten. Effmanns höchst interessantes Buch über
Centula1) kennt Male natürlich nicht. Darnach hat Centula eben gerade nicht zwei
einander im wesentlichen entsprechende Chöre, sondern an der Westseite eine
besondere Salvatorkirche, die weit eher als Westwerk zu bezeichnen ist, gehabt.
Damit werden alle Schlüsse Males hinfällig. Es ist natürlich trotzdem möglich,
daß die erste wirklich doppelchörige Anlage im Westfrankenreich stand. Das ändert
aber nichts an der Tatsache, daß die Baubewegung im ganzen karolingischen Reich
um 800, soweit wir heute wissen, einheitlich war, und daß an ihr das Ostfranken-
reich, also Deutschland, hervorragenden schöpferischen Anteil hatte. Die deutsche
Forschung hat sich mit dieser Baubewegung in neuester Zeit eingehender beschäf-
tigt, ohne jede Spur von Voreingenommenheit, wie namentlich Effmanns aus-
gezeichnete Arbeiten beweisen. Und sie wird so fortfahren. Emile Male hätte
besser getan, sich um diese Dinge erst einmal etwas genauer zu kümmern. Mit
seinen höchst oberflächlichen Bemerkungen rührt er überhaupt noch nicht einmal
an die wirklichen Probleme, die uns die Geschichte der karolingischen Baukunst
(1) W. Effmann, Centula-St. Riquier. Münster 1912.
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