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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Antworten auf Emile Mâles "Studien über die deutsche Kunst"
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Kautzsch, Rudolf: Dr. Rudolf Kautzsch, ordentlicher Professor der Kunstgeschichte an der Universität Frankfurt a. M.
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Grautoff, Otto: Schlusswort
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0175
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oben über die malerische Sonderart der deutschen Baukunst Bemerkte begnügen
und lieber noch ein paar Worte über die Gotik sagen.
Es ist in der Hauptsache dies. Sobald man sich in Deutschland einmal ent-
schloß, mit der Gotik Ernst zu machen, da ging man in Frankreich gründlich in
die Schule. Gewiß. Aber gerade die ersten Jahrzehnte der Gotik in Deutschland
zeigen, wie selbständig und eigenartig man das Gelernte verarbeitete. Trier, Mar-
burg, Straßburg, Freiburg, Oppenheim — um nur die Hauptnamen zu nennen —
jede Lösung anders als die andere, alle von großer Frische und Selbständigkeit.
Wenn man sich erinnert an das, was ich oben über den Begriff der Nachahmung
gesagt habe, wird man zustimmen müssen, wenn das Verhältnis Deutschlands zu
Frankreich folgendermaßen gefaßt wird. Zur Vollendung gebracht wurde die Gotik
in Frankreich, das bleibt unbestritten. Wie alle Welt haben auch die deutschen
Baumeister dort gelernt. Ihre Werke zeichnen sich gerade in den Anfängen der
neuen Bewegung durch ihre Eigenart aus, sind nichts weniger, als geistlose Ko-
pien. Frankreich hat weder einen Zentralbau, wie die Liebfrauenkirche in Trier,
noch eine Fassade, wie Straßburg, noch einen Turm, wie Freiburg, noch ein Lang-
haus mit einer Kapellenanlage wie sie einst Oppenheim aufwies. Male hilft sich
mit belustigenden Sprüngen. Der Meister von Trier soll ein Franzose sein, der
der Straßburger Fassade zwar kein Franzose, aber auch kein Deutscher, sondern? —
ja das sagt er leider nicht; vom Freiburger Turm, von Oppenheim kein Wort.
Seine freundlichen Urteile bedürfen also immerhin einer gewissen Ergänzung. Wir
aber wollen uns erinnern, daß die Um- und Weiterbildung der französischen Gotik
auf deutschem Boden in demselben Sinne erfolgt, den wir im deutschen Spätroma-
nismus erkannten. Es ist die Freude an reichen Raumbildungen (Trier, Marburg,
Oppenheim) und die Lust an der dekorativen, der malerischen Pracht des Außen-
kleides (Straßburg, Oppenheim), was die Meister leitet, es sind dieselben deutschen
Züge wie früher.
Endlich zur sogenannten Spätgotik. Hier hält sich Male selbstverständlich aus-
schließlich an die herben Urteile, die Dehio und von Bezold über die deutsche
Spätgotik gefällt haben. Diese Urteile sind unanfechtbar, wenn man diese Kunst
am Maßstab der kanonischen französischen Kathedralgotik mißt. Und dieses Ver-
fahren war ohne weiteres selbstverständlich in einer Zeit, die noch so stark unter
dem Bann der Vorstellung stand, jeder große Stil müsse die drei Perioden des
Werdens, der Blüte und des Verfalls aufweisen. Aber wenn sich Male wirklich
um unsere Anschauungen von der deutschen Spätgotik hätte kümmern wollen, so
würde ihm nicht entgangen sein, daß auch Dehio heute vielfach anders urteilt, als
1901 (vgl. die schönen Analysen im Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler),
und vor allem, daß eine neue Generation die Befangenheit jener älteren Vorstel-
lungen abgestreift hat. Wir fragen heute nach dem besonderen Kunstwollen der
deutschen bürgerlichen Gotik seit 1350. Da muß sich mit einem Schlag das
Urteil ändern. Seit Schmarsows Vorgang sind wir darin einig, daß in dieser Kunst
neue Absichten zu neuen Zielen führen, und daß eine neue Raumschönheit, die
Schönheit des bildhaft sich breitenden Raumes, an die Stelle der Schönheit go-
tischer Raumgliederung und Gliederbewegung getreten ist. Als einziges Beispiel
für sehr, sehr viele mag der Chor der Lorenzkirche in Nürnberg genannt sein. Ich
will hier nicht wiederholen, was nächst Schmarsow Hänel, Niemeyer, Pinder,
Gerstenberg, auch Wölfflin gelegentlich über dieses Thema gesagt haben. Wir
können uns getrost dabei beruhigen. Es gibt eine eigne deutsche Gotik, die Aus-
druck eines besonderen eigenen Kunstwillens ist.

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