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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Antworten auf Emile Mâles "Studien über die deutsche Kunst"
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Kautzsch, Rudolf: Dr. Rudolf Kautzsch, ordentlicher Professor der Kunstgeschichte an der Universität Frankfurt a. M.
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Grautoff, Otto: Schlusswort
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0176

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Wie leichtfertig Male auch hier verfährt, dafür zum Schluß nur noch ein Bei-
spiel. Von Chorin, von Tangermünde, von Brandenburg, von der Marienburg, kurz
von der ganzen deutschen Backsteingotik sagt er kein Wort! Kennt er sie nicht —
dann soll er sich nicht herausnehmen, über die deutsche Kunst des 14. Jahrhunderts
zu urteilen. Kennt er sie, dann — ist er gerichtet.
Genug. Die deutsche Kunst ist immer wieder gern bereit gewesen, sich die
Lösung der formalen Darstellungsprobleme dadurch zu erleichtern, daß sie bei den
Nachbarn, in Italien, in Frankreich, in den Niederlanden, in die Schule ging. Den-
noch kann man nicht sagen, daß die formale Phantasie des deutschen Künstlers
schwach entwickelt wäre. Males Schlußfolgerungen sind einfach kindisch. Ein
Blick auf die deutsche Backsteingotik, auf die deutsche Plastik des 14., 15. und
16. Jahrhunderts, auf die deutsche Graphik, um nur diese drei Gebiete herauszu-
greifen, genügt, um dessen ganz sicher zu werden. Der Grund ist ein anderer.
Dem deutschen Künstler ist die formale Lösung nie in demselben Sinne Haupt-
anliegen gewesen, wie den anderen. Er hat sich um die durch und durch klare,
notwendige, endgültige Form so gut wie nie in geschlossenen Schulen, oder gar
Generationen hindurch bemüht. Er sucht lieber die einmalige besondere, die indi-
viduelle, die ganz persönliche Lösung. Wie haben wir die französische Gotik, die
niederländische Malerei, die italienische Renaissance umgemodelt und „willkürlich"
verwertet! Das ist deutlich. Viel schwerer ist es, zu sagen, was wir mit solcher
Veränderung wollten. In der Hauptsache mag es dies sein. Die deutsche Kunst
ist selten oder nie rational (wie die romanische immer). Die dunkle Welt der
Gefühle hat eine viel stärkere Macht über uns, als über die andern. So wird denn
auch die Form lieber unfertig gelassen, kraus, ja wirr, ungestüm und leidenschaft-
lich gestaltet. Denn ihr Gehalt an Leben ist uns wichtiger, als ihre kristallklare
Geschlossenheit. Wohlgemerkt, ich spreche damit kein Werturteil aus. Nur darauf
kam es mir an, das grundsätzliche Anders-sein der deutschen Kunst anzudeuten.
Wir können und werden nicht verlangen, daß der Romane dieser Eigenart und
diesem besonderen Wert unserer Kunst ganz gerecht wird. Er wird notwendiger-
weise die unlösbar damit verbundenen Schwächen vor allem empfinden. Hätte
Emile Male sich darauf beschränkt, dies oder ähnliches darzutun, wir könnten mit
ihm reden. Aber er hat den Schein objektiver Wissenschaftlichkeit mißbraucht,
uns zu beschimpfen. Er hat mit unerhörter Leichtfertigkeit oder gar wider besseres
Wissen ein Zerrbild von unserer Kunst entworfen, das im ganzen wie im einzelnen
unvollständig, gefälscht und töricht ist. Der sinnlose Haß, der das geistige Frank-
reich verwüstet, hat auch ihn um das schlichte Gut gebracht, das keinem Forscher
erlassen werden kann, die einfache Redlichkeit.

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