REZENSIONEN ..
BRUNO MEISSNER, Grundzüge der
babylonisch-assyrischen Plastik.
Leipzig, J. C. Hinrichs 1915. Preis M. 3,50,
geb. M. 4,50.
Wen die geschichtliche Betrachtung der uns
zugänglichen Zeiten größten künstlerischen Auf-
schwungs gelehrt hat, daß der Weg von den An.
fängen der Kunst bis zu ihrer höchsten Blüte für
ein einziges Volk zu lang ist, der mußte nach
Vorstufen Umschau halten, sobald er erkannt
hatte, daß die von Schliemann in den mykeni-
schen Gräbern gefundenen Reste Zeugen einer
solchen höchsten Blüte sind. Diese Erkenntnis
mußte spätestens nach der Auffindung der Becher
von Vaphio jedem Kunstverstehenden kommen.
Seit der Aufdeckung der kretischen Paläste lag
sie vor aller Augen. Und nun wurde auch die
Frage dringender, wo es etwa eine hochentwickelte
Kunst gegeben haben könne, die für die Entwick-
lung jener kretisch-mykenischen Kunst fördernd
gewesen sein konnte. Da ließ nun das wenige,
was schon lange von Funden aus Tello bekannt
war, vermuten, daß die altbabylonische Kunst
nach Art und Alter wesentlich in Frage kommen
müsse.
Es ist ein erstes und wichtiges Ergebnis des
Buches von Meißner für die Kunstgeschichte, daß
man eine solche Vermutung als im wesentlichen
bestätigt ansehen kann. Die altbabylonische Kunst
stellt sich als eine ganz ursprüngliche, reiche und
hochentwickelte dar. Ein Stück wie die Geierstele
des Königs Eannatum aus dem dritten jahrtausend
genügt, um diese Eigenschaften sowie die grund-
sätzliche Verschiedenheit von der ägyptischen Kunst
zu erkennen. Gar ein Werk wie die Stele des
Königs Naram-Sin (Abb. 38—40) mit der erstaun-
lichen Darstellung der Bewegungen und dem aus-
gebildeten plastischen Formgefühl findet erst in
der aufs höchste entwickelten kretischen Kunst des
zweiten Jahrtausends v. Chr. annähernd seines-
gleichen.
Auch aus der Zeit Hammurapis (Ausgang des
dritten Jahrtausends v. Chr.) sind noch eine Reihe
von Kunstdenkmälern erhalten, die die Höhe, die
Eigentümlichkeit und die Langlebigkeit der alt-
babylonischen Kunst beweisen. Die spärlichen
Reste der mittel- und neubabylonischen Plastik
genügt es hier mit einem Worte zu erwähnen.
Sie sind als Bindeglieder für die Kenntnis des
Zusammenhangs in der Entwicklung freilich von
Bedeutung, denn sie zeigen, daß verschiedene Be-
strebungen, vielleicht auch Einflüsse den einheit-
lichen Gang der Kunst teils bereichern, teils ab-
lenken.
Die Kenntnis der assyrischen Kunst ist so er-
weitert, daß man ihre Beziehungen zur beginnen-
den griechischen des achten und siebenten Jahr-
hunderts v. Chr. ganz aufs neue zu untersuchen
haben wird. Die ablehnende Stellung gegen Ein-
flüsse von dorther, wie sie H. Brunn noch im
wesentlichen einnahm, läßt sich nun nicht mehr
aufrecht erhalten.
Man sieht, wie wichtig für die Kenntnis der
Entwicklung der europäischen Kunst die Lehren
sind, die man aus der Arbeit von Meißner ziehen
kann. Das wird nicht nur der Fülle des von ihm
mitgeteilten Materiales, sondern vor allem der
klaren und übersichtlichen Anordnung verdankt,
der geistigen Verarbeitung, man darf sagen, der
bis zum höchsten gesteigerten wissenschaftlichen
Statistik. Es gibt nicht viel Bücher, die auf so
knappem Raume so viel bieten. Ein einziges Be-
denken muß bei aller Anerkennung dieser wesent-
lichen Vorzüge geäußert werden: Die Kunstwerke
als solche werden zwar genau erklärt und ge-
deutet und ihr sachlicher Inhalt in Beziehung zur
Geschichte gesetzt, aber ihr künstlerischer Gehalt
wird vom Standpunkt des heute herrschenden Ge-
schmacks beurteilt. Da fast alle lebenden Archäo-
logen so verfahren, so ist das nicht ein Vorwurf,
der den Verfasser, sondern die üblichen Methoden
trifft. Aber es sollte doch nachgerade selbstver-
ständlich sein, daß wir nicht unter Anlegung un-
seres heutigen — im wesentlichen der Zeit des
Klassizismus entnommenen — Maßstabes über
Kunstwerke vergangener Zeiten ein Werturteil
fällen sollen, da das immer nur ein mehr oder
weniger wissenschaftlich verbrämtes, aber im
Grunde schöngeistig - genießerisches sein kann.
Sondern wir sollen ihren künstlerischen Gehalt,
sofern er ein Ausdruck des Wollens ihrer Zeit
ist, ausschöpfen. Erst dann werden Kunstwerke
nicht nur statistisches Material für die Kunst-
geschichte sein, sondern Urkunden, die im wahren
Sinne Geschichtliches zu lehren haben.
Jena. Botho Graef ft
(Aus dem Nachlaß in Druck gegeben von
T. O. Achelis, Hadersleben.)
JAPANISCHE STICHBLÄTTER UND
SCHWERTZIERATEN. Sammlung Georg
Oeder, Düsseldorf. Beschreibendes Ver-
390
BRUNO MEISSNER, Grundzüge der
babylonisch-assyrischen Plastik.
Leipzig, J. C. Hinrichs 1915. Preis M. 3,50,
geb. M. 4,50.
Wen die geschichtliche Betrachtung der uns
zugänglichen Zeiten größten künstlerischen Auf-
schwungs gelehrt hat, daß der Weg von den An.
fängen der Kunst bis zu ihrer höchsten Blüte für
ein einziges Volk zu lang ist, der mußte nach
Vorstufen Umschau halten, sobald er erkannt
hatte, daß die von Schliemann in den mykeni-
schen Gräbern gefundenen Reste Zeugen einer
solchen höchsten Blüte sind. Diese Erkenntnis
mußte spätestens nach der Auffindung der Becher
von Vaphio jedem Kunstverstehenden kommen.
Seit der Aufdeckung der kretischen Paläste lag
sie vor aller Augen. Und nun wurde auch die
Frage dringender, wo es etwa eine hochentwickelte
Kunst gegeben haben könne, die für die Entwick-
lung jener kretisch-mykenischen Kunst fördernd
gewesen sein konnte. Da ließ nun das wenige,
was schon lange von Funden aus Tello bekannt
war, vermuten, daß die altbabylonische Kunst
nach Art und Alter wesentlich in Frage kommen
müsse.
Es ist ein erstes und wichtiges Ergebnis des
Buches von Meißner für die Kunstgeschichte, daß
man eine solche Vermutung als im wesentlichen
bestätigt ansehen kann. Die altbabylonische Kunst
stellt sich als eine ganz ursprüngliche, reiche und
hochentwickelte dar. Ein Stück wie die Geierstele
des Königs Eannatum aus dem dritten jahrtausend
genügt, um diese Eigenschaften sowie die grund-
sätzliche Verschiedenheit von der ägyptischen Kunst
zu erkennen. Gar ein Werk wie die Stele des
Königs Naram-Sin (Abb. 38—40) mit der erstaun-
lichen Darstellung der Bewegungen und dem aus-
gebildeten plastischen Formgefühl findet erst in
der aufs höchste entwickelten kretischen Kunst des
zweiten Jahrtausends v. Chr. annähernd seines-
gleichen.
Auch aus der Zeit Hammurapis (Ausgang des
dritten Jahrtausends v. Chr.) sind noch eine Reihe
von Kunstdenkmälern erhalten, die die Höhe, die
Eigentümlichkeit und die Langlebigkeit der alt-
babylonischen Kunst beweisen. Die spärlichen
Reste der mittel- und neubabylonischen Plastik
genügt es hier mit einem Worte zu erwähnen.
Sie sind als Bindeglieder für die Kenntnis des
Zusammenhangs in der Entwicklung freilich von
Bedeutung, denn sie zeigen, daß verschiedene Be-
strebungen, vielleicht auch Einflüsse den einheit-
lichen Gang der Kunst teils bereichern, teils ab-
lenken.
Die Kenntnis der assyrischen Kunst ist so er-
weitert, daß man ihre Beziehungen zur beginnen-
den griechischen des achten und siebenten Jahr-
hunderts v. Chr. ganz aufs neue zu untersuchen
haben wird. Die ablehnende Stellung gegen Ein-
flüsse von dorther, wie sie H. Brunn noch im
wesentlichen einnahm, läßt sich nun nicht mehr
aufrecht erhalten.
Man sieht, wie wichtig für die Kenntnis der
Entwicklung der europäischen Kunst die Lehren
sind, die man aus der Arbeit von Meißner ziehen
kann. Das wird nicht nur der Fülle des von ihm
mitgeteilten Materiales, sondern vor allem der
klaren und übersichtlichen Anordnung verdankt,
der geistigen Verarbeitung, man darf sagen, der
bis zum höchsten gesteigerten wissenschaftlichen
Statistik. Es gibt nicht viel Bücher, die auf so
knappem Raume so viel bieten. Ein einziges Be-
denken muß bei aller Anerkennung dieser wesent-
lichen Vorzüge geäußert werden: Die Kunstwerke
als solche werden zwar genau erklärt und ge-
deutet und ihr sachlicher Inhalt in Beziehung zur
Geschichte gesetzt, aber ihr künstlerischer Gehalt
wird vom Standpunkt des heute herrschenden Ge-
schmacks beurteilt. Da fast alle lebenden Archäo-
logen so verfahren, so ist das nicht ein Vorwurf,
der den Verfasser, sondern die üblichen Methoden
trifft. Aber es sollte doch nachgerade selbstver-
ständlich sein, daß wir nicht unter Anlegung un-
seres heutigen — im wesentlichen der Zeit des
Klassizismus entnommenen — Maßstabes über
Kunstwerke vergangener Zeiten ein Werturteil
fällen sollen, da das immer nur ein mehr oder
weniger wissenschaftlich verbrämtes, aber im
Grunde schöngeistig - genießerisches sein kann.
Sondern wir sollen ihren künstlerischen Gehalt,
sofern er ein Ausdruck des Wollens ihrer Zeit
ist, ausschöpfen. Erst dann werden Kunstwerke
nicht nur statistisches Material für die Kunst-
geschichte sein, sondern Urkunden, die im wahren
Sinne Geschichtliches zu lehren haben.
Jena. Botho Graef ft
(Aus dem Nachlaß in Druck gegeben von
T. O. Achelis, Hadersleben.)
JAPANISCHE STICHBLÄTTER UND
SCHWERTZIERATEN. Sammlung Georg
Oeder, Düsseldorf. Beschreibendes Ver-
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