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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0053
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STUDIEN ÜBER DIE DEUTSCHE KUNST

..Von EMILE MALE

III. DIE GOTISCHE ARCHITEKTUR.
Die Deutschen haben sich lange Zeit hindurch eingebildet, daß sie die gotische
Kunst erfunden hätten. Ein Deutscher mit dem französischen Namen Sulpice
Boisseree erklärt uns in seiner Beschreibung des Kölner Domes von 1823, daß der
germanische Ursprung der Architektur des 13. Jahrhunderts in jedem kleinsten ihrer
Ornamente bewiesen ist. Überall entdeckt man Blattwerk und Blumen, die ganze
Kirche scheint einen „vegetabilen" Charakter zu tragen. Wie sollte man darin nicht
die Züge des deutschen Geistes erkennen, des Geistes der Berg- und Waldbe-
völkerung, des poetischen Volkes, welches allein die Natur mit so inniger Liebe
liebt, wie es seine Mailieder und seine frühlingsfrischen Miniaturen beweisen.
Diese schlagenden Beweise mußten Deutschland überzeugen; sie verführten auch
Frankreich. Will Michelet, wollen die romantischen Dichter das Mittelalter feiern,
so nennen sie weder den Dom von Chartres, noch die Kathedrale von Reims,
sondern den Kölner Dom, — • Köln, Wunder aller Wunder und letztes Wort des
mystischen Geistes von Deutschland. Zu Unrecht hat man die Franzosen der Eitel-
keit geziehen: sie haben, im Gegenteil, den Fremden alle Vorzüge zugetraut und
sich selbst nur in allerletzter Linie bewundert.
Einige Männer jedoch mit gesundem Verstände begannen die Wahrheit zu durch-
schauen. Herr de Verneilh erklärte bereits um 1845, die gotische Kunst sei in
Frankreich entstanden. Einige Jahre danach setzten die ersten Bände des Nach-
schlagewerkes von Viollet-le-Duc diese Wahrheit außer allem Zweifel. Viollet-le-
Duc verdient fast ebensoviel Bewunderung wie Champollion: wie er hat er eine Welt
wiedergefunden. Die Entdeckung der gotischen Architekturgesetze, dieses Systems,
in dem alles sich hält und trägt, ist eine der schönsten Offenbarungen im 19. Jahr-
hundert. Viollet-le-Duc hat uns den glänzendsten Beweis französischen Geistes
erbracht. Seine hohe Intelligenz hat ein Frankreich entdeckt, so fruchtbar, so er-
finderisch und so zartsinnig wie Griechenland. Nie zuvor hat ein Gelehrter sein
Land so reich beschenkt.
Die deutsche Wissenschaft mußte sich beugen, forthin war es nicht mehr mög-
lich, an den deutschen Ursprung der gotischen Kunst zu glauben. Man erkannte
den Vorrang Frankreichs an. Aber, ist es bekannt, mit welchen erfinderischen
Winkelzügen dem deutschen Genie alle Rechte gewahrt wurden? Es muß hier
angeführt werden,, da man uns sonst nicht glauben würde. Schnaase fragt sich,
warum die schöpferische Kraft sich mit soviel Glanz in der l'Ile-de-France offen-
barte; seine Antwort lautet: „Die Germanen waren dort zahlreicher als irgendwo
anders; und die Vereinigung mit rein germanischen Provinzen, wie Flandern und
der Normandie kräftigten das germanische Element noch"1). Das war ein Licht-
blick für Deutschland. Jawohl, entstanden war die gotische Kunst zufällig in Frank-
reich, aber sie entsprang germanischem Geiste. Es hat fünfzig Jahre hindurch
keinen deutschen Archäologen gegeben, der die Genesis der Architektur des
13. Jahrhunderts nicht wie Schnaase erklärt hätte. Hören wir Lübke: „Es waren
unter den Germanen die stark germanisierten, leicht erregbaren und nach Neuem

(x) Schnaase, Geschichte der bildenden Künste, Band V, Seite 26 (Ausgabe von 1872).

Monatshefte für Kunstwissenschaft, X. Jahrg., 1917, Heft 2/3 4

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