zwischen Portal und Rose übereinander. Die Nachbildung ist überraschend. Die
Fassade von Straßburg ist keine andere als die von Notre-Dame in Paris, mit dem
Schmuckwerk ihrer Querschiffe.
Trotzdem hat diese Fassade etwas merkwürdig Eigenartiges. Der Straßburger
Architekt hat mit der reichen Phantasie Jean de Chelles' seine Träume ver-
schmolzen. Er hat vor Mauer und Fenster ein ganzes Gitterwerk ungewöhnlicher
Teilungen gespannt. Man denkt unwillkürlich an die straffen Saiten einer riesigen
Harfe. Es scheint, als ob bei dem leisesten Lüftchen die ganze Kathedrale leise
klingen müßte. Wir überschreiten hier die Grenzen der Kunst; die Architektur
macht den Eindruck, als wollte sie sich in Musik auflösen.
Wer hat all dies Wunderbare erträumt? Ist es Erwin, wie die Deutschen es
gern haben wollen? Wir wissen es nicht. Von Erwin sind nur zwei Dinge als
sicher bekannt, daß er im Jahre 1316 an der Kapelle der Heiligen Jungfrau arbei-
tete und daß er 1318 starb. Wir wissen nicht einmal, welches Alter er erreichte,
so daß es uns schlechterdings unmöglich ist herauszufinden, ob er wirklich der
Urheber einer Fassade ist, deren erster Stein 1277 gelegt wurde.
Dieser Einfall des Straßburger Architekten ist sicherlich nicht französisch, aber
er ist auch nicht deutsch. Deutschland hat vor diesem Zeitpunkt nichts Ähnliches
gebracht. Es bleibt eine isolierte Schöpfung.
So sieht man, daß die Fassade des Straßburger Münsters ebensowenig deutsch
ist wie das Schiff. Worauf beschränkt sich a!so der Anteil Deutschlands? Auf
das Stockwerk des nördlichen Turmes, der die Spitze trägt nnd auf diese Spitze
selbst. Der Nordturm wurde von dem Schwaben Ulrich von Ensingen zu Anfang
des 15. Jahrhunderts vollendet, und die von 1419 bis 1439 errichtete Spitze von
Johann Hültz aus Köln. Es ist der berühmteste Teil des Straßburger Münsters
und der wenigst schöne. Viollet-le-Duc, der unverdächtig ist, da er vor dem Kriege
1870 schrieb, und der keinerlei Vorurteil gegen die deutsche Kunst hatte, gab über
die Spitze von Straßburg folgendes strenge Urteil ab: „Es ist eine verfehlte Arbeit
von mittelmäßiger Ausführung."1) Im übrigen zollt er dem Wissen und dem auf-
richtigen Bestreben des Architekten volle Anerkennung. Man könnte vielleicht hin-
zufügen, daß man in dieser merkwürdigen Auffassung einige der auffälligsten Züge
des deutschen Geistes findet: die Freude am Kolossalen, am unendlich Verwickelten,
tiefes mit unermüdlicher Geduld gepaartes Wissen, welches aber weder Klarheit
noch Schönheit zu wecken vermag.
VII.
So hat während des ganzen 13. Jahrhunderts Deutschland nur zu kopieren ver-
standen, was Frankreich machte. Wir haben längst nicht alle diese Nachahmungen
erwähnt, nur die augenfälligsten haben wir hervorgehoben.
Wir stehen nun also vor dem 14. und 15. Jahrhundert. Durch Frankreich an-
gelernt, wird Deutschland endlich zeigen können, was es selbst ist und kann. Tat-
sächlich geben am Ende im Mittelalter die europäischen Völker der gotischen Archi-
tektur, die sie von uns übernommen hatten, einen nationalen Charakter. England
schafft den Perpendikel-Stil und seine feenhaften Gewölbe in Fächerform, die so
bezaubernd sind, wie die Einfälle eines Shakespeare. Nichts ähnelt einem franzö-
sischen Bauwerk weniger, als die Kapelle Heinrichs VII. zu Westminster. Italien
schafft nichts, aber es bildet die französische Architektur so von Grund aus um,
(1) Dictionnaire de l'Architecture, Band V, S. 442.
62
Fassade von Straßburg ist keine andere als die von Notre-Dame in Paris, mit dem
Schmuckwerk ihrer Querschiffe.
Trotzdem hat diese Fassade etwas merkwürdig Eigenartiges. Der Straßburger
Architekt hat mit der reichen Phantasie Jean de Chelles' seine Träume ver-
schmolzen. Er hat vor Mauer und Fenster ein ganzes Gitterwerk ungewöhnlicher
Teilungen gespannt. Man denkt unwillkürlich an die straffen Saiten einer riesigen
Harfe. Es scheint, als ob bei dem leisesten Lüftchen die ganze Kathedrale leise
klingen müßte. Wir überschreiten hier die Grenzen der Kunst; die Architektur
macht den Eindruck, als wollte sie sich in Musik auflösen.
Wer hat all dies Wunderbare erträumt? Ist es Erwin, wie die Deutschen es
gern haben wollen? Wir wissen es nicht. Von Erwin sind nur zwei Dinge als
sicher bekannt, daß er im Jahre 1316 an der Kapelle der Heiligen Jungfrau arbei-
tete und daß er 1318 starb. Wir wissen nicht einmal, welches Alter er erreichte,
so daß es uns schlechterdings unmöglich ist herauszufinden, ob er wirklich der
Urheber einer Fassade ist, deren erster Stein 1277 gelegt wurde.
Dieser Einfall des Straßburger Architekten ist sicherlich nicht französisch, aber
er ist auch nicht deutsch. Deutschland hat vor diesem Zeitpunkt nichts Ähnliches
gebracht. Es bleibt eine isolierte Schöpfung.
So sieht man, daß die Fassade des Straßburger Münsters ebensowenig deutsch
ist wie das Schiff. Worauf beschränkt sich a!so der Anteil Deutschlands? Auf
das Stockwerk des nördlichen Turmes, der die Spitze trägt nnd auf diese Spitze
selbst. Der Nordturm wurde von dem Schwaben Ulrich von Ensingen zu Anfang
des 15. Jahrhunderts vollendet, und die von 1419 bis 1439 errichtete Spitze von
Johann Hültz aus Köln. Es ist der berühmteste Teil des Straßburger Münsters
und der wenigst schöne. Viollet-le-Duc, der unverdächtig ist, da er vor dem Kriege
1870 schrieb, und der keinerlei Vorurteil gegen die deutsche Kunst hatte, gab über
die Spitze von Straßburg folgendes strenge Urteil ab: „Es ist eine verfehlte Arbeit
von mittelmäßiger Ausführung."1) Im übrigen zollt er dem Wissen und dem auf-
richtigen Bestreben des Architekten volle Anerkennung. Man könnte vielleicht hin-
zufügen, daß man in dieser merkwürdigen Auffassung einige der auffälligsten Züge
des deutschen Geistes findet: die Freude am Kolossalen, am unendlich Verwickelten,
tiefes mit unermüdlicher Geduld gepaartes Wissen, welches aber weder Klarheit
noch Schönheit zu wecken vermag.
VII.
So hat während des ganzen 13. Jahrhunderts Deutschland nur zu kopieren ver-
standen, was Frankreich machte. Wir haben längst nicht alle diese Nachahmungen
erwähnt, nur die augenfälligsten haben wir hervorgehoben.
Wir stehen nun also vor dem 14. und 15. Jahrhundert. Durch Frankreich an-
gelernt, wird Deutschland endlich zeigen können, was es selbst ist und kann. Tat-
sächlich geben am Ende im Mittelalter die europäischen Völker der gotischen Archi-
tektur, die sie von uns übernommen hatten, einen nationalen Charakter. England
schafft den Perpendikel-Stil und seine feenhaften Gewölbe in Fächerform, die so
bezaubernd sind, wie die Einfälle eines Shakespeare. Nichts ähnelt einem franzö-
sischen Bauwerk weniger, als die Kapelle Heinrichs VII. zu Westminster. Italien
schafft nichts, aber es bildet die französische Architektur so von Grund aus um,
(1) Dictionnaire de l'Architecture, Band V, S. 442.
62