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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0074
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Die Rippen sind magerer, sie heben sich weniger vom Grund ab, und die schönen
Schlußsteine, die den englischen Gewölben so viel Reichtum geben, sind nicht vor-
handen. Wenn man diese Gewölbe nur durch Deutschland kennt, kann man sich
keinen Begriff davon machen, welche Kraft, welche Fülle und welche Pracht des
Ausdrucks sie erreichen können" ').
Wir verzichten auf mehr. Das wird aus der Architektur des „auserwählten
Volkes", wenn es seinem eigenen Genius überlassen bleibt.
So fallen die alten Legenden in sich zusammen. Deutschland hatte uns an den
Geist des deutschen Architekten und Steinschneiders glauben machen wollen. Es
zeigte uns diesen poetischen Wanderburschen, wie er, den Stock in der Hand,
Franken und Bayern durchwandert. Von der Bauhütte in Würzburg ging er zur
Bauhütte in Regensburg. Er wanderte, den Blick zum Himmel gerichtet. Im Wald
trank er aus der Quelle, hier blieb er und lauschte der Glocke, betete in den Ka-
pellen von Notre-Dame, bewunderte die Blumen. Er häufte Schätze in seinem
Herzen. Aus dieser Poesie besteht die deutsche Kirche. Geheimnisvoll war sie
wie der Wald, ihre Verglasung trug die Farbe der Quelle und des Himmels; ihre
Kapitele trugen einen aus den Blumen des Weges geflochtenen Kranz.
Das alles war Lüge. Der deutsche Künstler hat nie schaffen können, er hat
immer nur nachzuahmen gewußt. Er hat keine der Formen, keinen Schmuck seiner
Kirche erfunden; der Dichter, der Beschauer, der Schöpfer — ist nicht der Deutsche,
sondern der Franzose — der hat es verstanden, seinen Werken die religiöse Schön-
heit der Welt zu geben.
Wenn man Deutschland „seine Rechte" auf die gotische Kunst geltend machen
hört, glaubt man einen Numiden, der sich einen Tempel und eine Säulenhalle in
seiner afrikanischen Stadt erbaut hat, sich als den Schöpfer der griechischen Kunst
brüsten zu hören. Der deutsche Künstler ist der ehrbare Meistersinger von Nürn-
berg: er kennt alle Regeln der Kunst, seine Grammatik, die Syntax, das Versmaß,
es fehlt ihm nur ein ganz kleines Etwas: das Genie.
(i) Dehio und Bezold, Band II, S. 328.
Anmerkung der Schriftleitung: In Nr. 15 der KUNST-CHRONIK fühlt sich Herr Tietze berufen,
unter Aufwand allgemeiner Redensarten die Deutsche Kunst gegen Herrn Male in Schutz zu
nehmen und den MONATSHEFTEN FÜR KUNSTWISSENSCHAFT den hier erfolgten Abdruck vor-
zuwerfen. Der Schriftleitung genügt demgegenüber die Tatsache, daß die Leser dieser Zeitschrift den
Ausführungen des Herrn Male mit Interesse gefolgt sind und daß einige der berufenen Vertreter
deutscher Kunstwissenschaft in dem nächsten Heft ihrerseits zu der Darlegung des französischen
Gelehrten Stellung nehmen werden.

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