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Muche, Georg
Blickpunkt: Sturm, Dada, Bauhaus, Gegenwart — München: Langen-Müller, 1961

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https://doi.org/10.11588/diglit.48466#0015
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Vorwort

Wer bis zu diesem Augenblick Beginn und Mitte des zwanzig-
sten Jahrhunderts erlebte, macht eine Erfahrung, die der Mensch
nur im Alter und niemals in der Jugend haben kann. Er beob-
achtet, wie Ereignisse nach und nach Geschichte werden. Dieses
Erstarren der Wirklichkeit hat nichts mit dem Leben zu tun. Das
ist eine erregende Erkenntnis. Die Historie verwandelt und ent-
stellt das Wirkliche, wenn sie die Wahrheit beschreibt, der sie
im Leben nicht begegnen kann. Die Geschichte gleicht einer Frisur
auf Totenschädeln. Es wird ein Scheitel gezogen, übersichtlich
werden die Strähnen gelegt, die Locken gekämmt - und dann und
wann nach neuer Mode gekräuselt. Die Strähnen des Lebens aber
sind wirr verfitzt, und die gescheitelte Gerade gibt es nicht.
Wahrheit und Irrtum sind schöpferisch-zerstörerisch ineinander
verschlungen.
Ich möchte kein Historiker sein, wenn ich dieses Buch schreibe.
Ich will Geschichten erzählen, die das Leben ahnen lassen, das
eine Epoche formte. Hin und wieder soll ein Dokument Zeugnis
geben von Menschen und Ereignissen jener Zeit, die reich an
Abenteuern des Geistes und der Herzen war und im Schicksal
verfluchter Jahre unterging.
Meine Uhr tickte rückwärts, als ich die Zeilen dieses Buches
schrieb: zwölf — elf — zehn — neun — neunzehnhundertsechzig —
50-40-30-20-10-00-0-0.
Von der Zukunft her soll die Reihenfolge der Kapitel beginnen
und auf der letzten Seite in der Vergangenheit enden.
 
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