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Müller, Friedrich Max
Vorlesungen über den Ursprung und die Entwicklung der Religion: mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des alten Indiens — Strassburg, 1881

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https://doi.org/10.11588/diglit.22367#0107
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Ist Fetischismus die Urform aller Religion?

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und Maitressen hersagen zu können, mag sehr gut zu
einem Staatsexamen sein, aber dass es ein Zeichen wirk-
licher Bildung ist, habe ich nie glauben können. Sokrates
war doch kein Wilder, aber ich zweifle, ob er die tarnen
und Jahreszahlen seiner eigenen Archonten hätte hersagen
können, geschweige denn die Namen der Könige von
Aegypten und Babylon.

Und wenn wir uns dann fragen, wie zu unserer eige-
nen Zeit Geschichte gemacht wird, so werden wir vielleicht
besser das Gefühl derer verstehen lernen, die sich nicht
überzeugen können, dass jede königliche Hochzeit, jede
Schlächterei, sei es zwischen wilden Horden oder civili-
sirten Heeren, jede Zusammenkunft von Friedensmännern
oder jeder Congress von Diplomaten zum Besten künftiger
Geschlechter in der Erinnerung aufbewahrt werden müssen.
Je mehr man sieht, wie Geschichte geschrieben wird, desto
weniger begreift man, dass ihr Werth so gross sein könne,
wie man wol früher glaubte. Man setze den Fall, dass die
Geschichte der letzten zwei Jahre von Gladstone, Beacons-
field und Gortschakoff geschrieben würde; — was sollten
wol zukünftige Historiker davon glauben? Ja, was sollen
zukünftige Historiker über diese Staatsmänner selbst
glauben, die von denen, welche die beste Gelegenheit sie
zu beurtheilen hatten, entweder als hochherzige Patrioten
oder als selbstsüchtige Parteimänner dargestellt werden?
Selbst blosse Thatsachen, wie die in Bulgarien verübten
Greuelthaten, können nicht, so scheint es, von zwei Augen-
zeugen ohne die grössten Widersprüche beschrieben werden.
Ist es denn also so unbegreiflich, dass eine ganze Nation,
— ich meine die alten Indier — Geschichte im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes einfach verachtete, und anstatt
ihr Gedächtniss mit Namen von Königen, Königinnen,
 
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