Nr 9-
Münchner kunsttechnische Blätter.
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eigentümlichen Sehvermögens veranlasst habe.
Bei der Untersuchung stellte sich hochgradiger
Astigmatismus heraus, von dessen Vorhandensein
der Offizier gar keine Ahnung hatte und der Arzt
musste ihm die Unmöglichkeit, in solchem Falle
Maler zu werden, klar machen.
Nach dieser Einschaltung kehren wir wieder
zur Katzschen Analyse zurück. Er meint für den
Fall eines erworbenen Astigmatismus müsste aber-
mals unterschieden werden, je nachdem nach der
Natur oder nach der Erinnerung gearbeitet würde.
Nach seinen Versuchen nimmt er an, dass wir
„trotzdem für den Fall, dass Greco nach der Er-
werbung des Astigmatismus nach der Natur ar-
beitete, wieder eine im wesentlichen richtige
Darstellung erwarten sollten" (S. 36). Das heisst
doch soviel, als ob es gleichgültig wäre, ob
jemand von Astigmatismus behaftet ist
oder nicht!
Aber Katz sagt gleich darauf selbst, wie
schwierig es ist, darüber sicher zu urteilen, weil
„uns für eine derartige Analyse noch gänzlich
die empirischen Unterlagen fehlen". Nur in dem
Falle, dass Greco nach Erwerbung des Astig-
matismus nach der Phantasie arbeitete und dabei
Erinnerungsbilder, die in den gesunden Tagen
erworben worden waren, zur Verwendung kamen,
nur in diesem Falle, wäre mit einer astigmatischen
Verzeichnung der Figuren zu rechnen", und die
Versuche, die Katz daraufhin mit dem planzylin-
drischen Glase anstellte, bestätigten diese Voraus-
setzung. Er zeichnete aus dem Gedächtnis eine Reihe
von Gegenständen, Tiere und menschliche Figuren, so
dass sie den ihm vorschwebenden Erinnerungsbildern
entsprachen, und „erhielt dabei Bilder, die na-
türlich bei Betrachtung ohne Glas einen astig-
matisch völlig verzeichneten Eindruck machten".
Von der Voraussetzung ausgehend, dass Greco
seinen Astigmatismus in späteren Lebensjahren
erworben haben könnte, gibt Katz also die
Möglichkeit einer „Teilhypothese" zu, ins-
besondere da „viele Bilder Grecos, die den Ver-
dacht des Astigmatismus haben aufkommen lassen,
Eingebungen der Phantasie gewesen sein dürften,
und man hätte die Ergebnisse der Datierung der
einzelnen Bilder Grecos zur Entscheidung dieser
Betrachtung mit heranzuziehen". Nur glaubt Katz
doch Einwände gegen die Richtigkeit dieser
„Teilhypothese" erheben zu müssen, dahingehend,
dass „die vor dem Eintritt des Astigmatismus er-
worbenen Vorstellungsbilder Greco bei der Pro-
duktion oder bei der Kontrolle des Gezeichneten
kaum lange im Sinne von Verzeichnungen hätten
beeinflussen können, sondern ähnlich wie bei
sonstigen Anpassungs- oder Ausgleichungsfunk-
tionen des Auges ausser Wirkung gesetzt würden".
Um auch diesen Fall „exakt-experimentell" zu
untersuchen, wollte er sich selbst dem, wie sich
zeigte, ziemlich gewagten Versuch unterziehen,
sein Auge über eine längere Zeit hindurch astig-
matisch zu machen, aber der Versuch versagte
sehr bald durch Eintritt heftiger Uebelkeit, die
naturgemäss als Folge der Ueberanstrengung des
Akkomodationsmechanismus sich einstellte. Das
sind Experimente, deren Misserfolg jeder Augen-
arzt oder Optiker hätte Voraussagen können.
Jedermann weiss, wie anstrengend es ist, durch
eine Brille zu sehen, deren Brennweite zu kurz
oder zu lang ist, und hier sollte ein Zylinderglas
von der oben erwähnten Stärke längere Zeit
vor ein normales Auge gesetzt werden!
Der Experimentator beruhigt sich über seinen
Misserfolg mit dem Hinweis auf ähnliche von
Wundt*) beschriebene Versuche, über die Wir-
kung des Anpassungsvermögens des Auges bei
Verwendung einer „prismatischen Brille", deren
brechender Winkel zweckmässig, um störende
Farbenwirkungen zu vermeiden, $—6° nicht über-
schreitet, und durch welche gesehen, geradlinige
Konturen zunächst gebogen, ebene Flächen ge-
wölbt und kompliziertere Bilder dementsprechend
verzerrt erscheinen. Nach dauerndem Gebrauch
einer solchen Brille verschwänden in einigen Tagen
nun die Verzerrungen und man sähe die Gegen-
stände ebenso gerade wie mit blossem Auge.
Da das Bild auf der Netzhaut in diesem Falle
immer dasselbe bleibt, so könne diese Aufhebung
der Verzerrung nur auf eine Anpassung der Netz-
hautelemente an die neuen Bedingungen des Se-
hens zurückgeführt werden**), und genau so
müsste es mit dem astigmatisch gemachten Auge
der Fall sein. Aber der Vergleich hinkt. Denn
aus Wundts Versuch geht nicht hervor, in welcher
Weise der Träger der prismatischen Brille dann
gerade Linien oder gerade umrandete Flächen
auf der Tafel nachzubilden in der Lage
ist? Wird er in der Absicht eine gerade Linie
ziehen zu wollen, gebogen von gerade richtig
unterscheiden können? Darauf käme es doch
vor allem an.
Unser Sehakt ist doch bekanntlich aus zwei
Teilen zusammengesetzt, aus der äusseren Funk-
tion beim Auffangen der Bilder auf der Netzhaut
und der Ueberführung des Gesehenen zum Be-
wusstsein auf dem Wege des Sehnervs zum Ge-
hirn. Schon die Umkehrung der Bilder ist reine
*) W. Wundt, Grundzüge der physiolog. Psycho-
logie. VI. Auf!., 1910, S. 543.
**) Mit starken prismatischen Gläsern sieht man
plane Flächen konvex (das ist eine Urteilstäuschung,
welche verschwindet) und periphere vertikale Linien
verbogen (gekrümmt), diese letztere Erscheinung be-
ruht auf optischer Ursache und verschwindet bei mir
nicht (entgegen Wundt). — Dass infolge von sphärischer
Aberration des Auges oder der benützten Brille gerade
Linien gekrümmt gesehen werden, ist bekannt. Man
findet diese fehlerhafte Darstellung nicht selten auch
in den Zeichnungen hervorragender Künstler, wie
z. B. bei Gustav Dorö (vgl. meinen Aufsatz in den
Kunsttechnischen Blättern). Dr. Emil B.
Münchner kunsttechnische Blätter.
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eigentümlichen Sehvermögens veranlasst habe.
Bei der Untersuchung stellte sich hochgradiger
Astigmatismus heraus, von dessen Vorhandensein
der Offizier gar keine Ahnung hatte und der Arzt
musste ihm die Unmöglichkeit, in solchem Falle
Maler zu werden, klar machen.
Nach dieser Einschaltung kehren wir wieder
zur Katzschen Analyse zurück. Er meint für den
Fall eines erworbenen Astigmatismus müsste aber-
mals unterschieden werden, je nachdem nach der
Natur oder nach der Erinnerung gearbeitet würde.
Nach seinen Versuchen nimmt er an, dass wir
„trotzdem für den Fall, dass Greco nach der Er-
werbung des Astigmatismus nach der Natur ar-
beitete, wieder eine im wesentlichen richtige
Darstellung erwarten sollten" (S. 36). Das heisst
doch soviel, als ob es gleichgültig wäre, ob
jemand von Astigmatismus behaftet ist
oder nicht!
Aber Katz sagt gleich darauf selbst, wie
schwierig es ist, darüber sicher zu urteilen, weil
„uns für eine derartige Analyse noch gänzlich
die empirischen Unterlagen fehlen". Nur in dem
Falle, dass Greco nach Erwerbung des Astig-
matismus nach der Phantasie arbeitete und dabei
Erinnerungsbilder, die in den gesunden Tagen
erworben worden waren, zur Verwendung kamen,
nur in diesem Falle, wäre mit einer astigmatischen
Verzeichnung der Figuren zu rechnen", und die
Versuche, die Katz daraufhin mit dem planzylin-
drischen Glase anstellte, bestätigten diese Voraus-
setzung. Er zeichnete aus dem Gedächtnis eine Reihe
von Gegenständen, Tiere und menschliche Figuren, so
dass sie den ihm vorschwebenden Erinnerungsbildern
entsprachen, und „erhielt dabei Bilder, die na-
türlich bei Betrachtung ohne Glas einen astig-
matisch völlig verzeichneten Eindruck machten".
Von der Voraussetzung ausgehend, dass Greco
seinen Astigmatismus in späteren Lebensjahren
erworben haben könnte, gibt Katz also die
Möglichkeit einer „Teilhypothese" zu, ins-
besondere da „viele Bilder Grecos, die den Ver-
dacht des Astigmatismus haben aufkommen lassen,
Eingebungen der Phantasie gewesen sein dürften,
und man hätte die Ergebnisse der Datierung der
einzelnen Bilder Grecos zur Entscheidung dieser
Betrachtung mit heranzuziehen". Nur glaubt Katz
doch Einwände gegen die Richtigkeit dieser
„Teilhypothese" erheben zu müssen, dahingehend,
dass „die vor dem Eintritt des Astigmatismus er-
worbenen Vorstellungsbilder Greco bei der Pro-
duktion oder bei der Kontrolle des Gezeichneten
kaum lange im Sinne von Verzeichnungen hätten
beeinflussen können, sondern ähnlich wie bei
sonstigen Anpassungs- oder Ausgleichungsfunk-
tionen des Auges ausser Wirkung gesetzt würden".
Um auch diesen Fall „exakt-experimentell" zu
untersuchen, wollte er sich selbst dem, wie sich
zeigte, ziemlich gewagten Versuch unterziehen,
sein Auge über eine längere Zeit hindurch astig-
matisch zu machen, aber der Versuch versagte
sehr bald durch Eintritt heftiger Uebelkeit, die
naturgemäss als Folge der Ueberanstrengung des
Akkomodationsmechanismus sich einstellte. Das
sind Experimente, deren Misserfolg jeder Augen-
arzt oder Optiker hätte Voraussagen können.
Jedermann weiss, wie anstrengend es ist, durch
eine Brille zu sehen, deren Brennweite zu kurz
oder zu lang ist, und hier sollte ein Zylinderglas
von der oben erwähnten Stärke längere Zeit
vor ein normales Auge gesetzt werden!
Der Experimentator beruhigt sich über seinen
Misserfolg mit dem Hinweis auf ähnliche von
Wundt*) beschriebene Versuche, über die Wir-
kung des Anpassungsvermögens des Auges bei
Verwendung einer „prismatischen Brille", deren
brechender Winkel zweckmässig, um störende
Farbenwirkungen zu vermeiden, $—6° nicht über-
schreitet, und durch welche gesehen, geradlinige
Konturen zunächst gebogen, ebene Flächen ge-
wölbt und kompliziertere Bilder dementsprechend
verzerrt erscheinen. Nach dauerndem Gebrauch
einer solchen Brille verschwänden in einigen Tagen
nun die Verzerrungen und man sähe die Gegen-
stände ebenso gerade wie mit blossem Auge.
Da das Bild auf der Netzhaut in diesem Falle
immer dasselbe bleibt, so könne diese Aufhebung
der Verzerrung nur auf eine Anpassung der Netz-
hautelemente an die neuen Bedingungen des Se-
hens zurückgeführt werden**), und genau so
müsste es mit dem astigmatisch gemachten Auge
der Fall sein. Aber der Vergleich hinkt. Denn
aus Wundts Versuch geht nicht hervor, in welcher
Weise der Träger der prismatischen Brille dann
gerade Linien oder gerade umrandete Flächen
auf der Tafel nachzubilden in der Lage
ist? Wird er in der Absicht eine gerade Linie
ziehen zu wollen, gebogen von gerade richtig
unterscheiden können? Darauf käme es doch
vor allem an.
Unser Sehakt ist doch bekanntlich aus zwei
Teilen zusammengesetzt, aus der äusseren Funk-
tion beim Auffangen der Bilder auf der Netzhaut
und der Ueberführung des Gesehenen zum Be-
wusstsein auf dem Wege des Sehnervs zum Ge-
hirn. Schon die Umkehrung der Bilder ist reine
*) W. Wundt, Grundzüge der physiolog. Psycho-
logie. VI. Auf!., 1910, S. 543.
**) Mit starken prismatischen Gläsern sieht man
plane Flächen konvex (das ist eine Urteilstäuschung,
welche verschwindet) und periphere vertikale Linien
verbogen (gekrümmt), diese letztere Erscheinung be-
ruht auf optischer Ursache und verschwindet bei mir
nicht (entgegen Wundt). — Dass infolge von sphärischer
Aberration des Auges oder der benützten Brille gerade
Linien gekrümmt gesehen werden, ist bekannt. Man
findet diese fehlerhafte Darstellung nicht selten auch
in den Zeichnungen hervorragender Künstler, wie
z. B. bei Gustav Dorö (vgl. meinen Aufsatz in den
Kunsttechnischen Blättern). Dr. Emil B.