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Künstler-Gesellschaft Zürich [Editor]
Neujahrsblatt der Künstlergesellschaft in Zürich — 6.1846

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[Corrodi, Wilhelm]: I. Leben des Landschaftmalers Caspar Rahn von Zürich
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https://doi.org/10.11588/diglit.28581#0006
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Mit der innigsten Rührung legte sie die eine Hand anf das Haupt der Braut und wies mit der andern auf jcdes
der acht Kinder hin. Und die Bande der gefesfelten Zunge sprangen, und daS volle Herz fand seine Sprache wieder.
Sie, die seit Jahren nur einige unverständliche Laute hervorgebracht hatte, vermochte jetzt zu sagen: Gott wird dich
segnen! Gott wird dich segnen! Und am Morgen, da sie zum Frühstück kommen sollte, lag sie entseelt im Bette!
Welch' ein Siegel auf daS Vermächtniß, das sic der neuen Mutter hinterlicß! Nicht nur die Bande der Zunge,
sondern jede Fessel deS irdischen Lebens lvste die allmächtige Liebe des Mutterherzens, und gab der siegreichen Seele
Flügel zum Ausschwung in das heimische Land, auS dem alle Liebe stammt.

Die Rahnische Wohnung in der Farb, schreibt Hottinger in Salomon Gcßncrs Biographie, war dcr Sammel-
platz, wo die besten Köpfe von Zürich sich sinden ließen. Der Großvatcr Rahn war ein talentreicher, durch Um-
gang, Weltkenntniß und Erfahrung ausgebildeter Mann. Alle seine Söhne, dercn ältester, Hartmann Rahn, in
der Folge Klopstock'S Schwager und Fichte's Schwiegervater gewvrden ist, zcichneten sich durch Geist, Talent, Kennt-
nisse und einen originellen Schnitt aus. Alle waren, um mit Fischer zu reden, mit Keuer getauft, voll Geistes
und regen Sinnes für Recht, Wahrheit und Tugend. Um ste sammelte sich alles, wa s die Vaterstadt damalö Aus-
gezcichneteS hattte. Dort sah man jeden Abend den Sänger des ersten Schiffers, den Uebersetzer Pindars und der
griechischen Tragikcr, den philosophischen Biographen des philosophischen Bauers, kurz alle, die in jener Morgen-
röthe unserer Cultur Zürichs Namen vcrherrlichten.

Rahn's Großvater starb im Jahr 1767, und sein Vater übernahm das von ihm geführte Geschäft. Aber bald
nachdem er sich mit seiner zweitcn Gattin verbunden hatte, trübte sich der Himmel, die Geschäfte geriethcn ins Stocken
und zwangen ihn zu dem schmerzlichcn Schritt, die Vaterstadt und Heimath zu verlassen und an den Ufern der
Aare eine Zuflucht zu suchen. Bis diese gcfunden war, blieb die Mutter mit den Kindern in der bisherigen Woh-
nung zurück und es läßt sich denken, was die fein fühlende und edle Seele bei solchem Umschwung dcs Schicksals
nnd unter den gewöhnlichen Verunglimpfungen roherer Mcnschcn leiden mußte. Aber bald war alles wieder vereinigt;
das gastsreundliche Aaran nahm die zahlreiche Familie auf und sah nun in seiner Mitte eine dcr besten Lehr- und
Kostanstalten aufblühen, die es je in dieseu Gegenden gab. Von allen Seiten her ftrömten Zöglinge zu, und
bcgründeten ihren Ruf auf mehr als ein Jahrzchend hinaus. Hier wuchs Caspar Nahn auf, und wic hätte
nicht der Einfluß der trefflichcn Eltern und eines Oheims, der sie nach Aarau begleitete und eine Zierbe der Lehrer-
schaft in der Unterrichts - Anstalt war, höchst wohlthätig auf ihn wirken sollen? Wir können uns nicht enthalten,
auch über diesen Oheim Jakob Rahn daS anzuführen, was Fischcr in seiner Denkrede übcr ihn sagt: „Ausge-
zeichnct schon in seiner Jugend unter allen Altersgenossen durch Geist und Herz, war cr frühe und bis an's spätc
Ende der Gegenstand allgemeiner Verehrung und Liebe. Mit welcher Jnnigkeit hingen alle, besonders seine Schü-
ler an ihm! Aber mit welcher Jnnigkeit lcbte er auch unter ihnen, nahm er an ihren Freuden Theil! Mit welcher
Geduld ertrug er dcn Schwachen, wie mild und gütig war er gegen den Fehlenden, mit welchcr Weisheit wußte
er auf jeden nach seinem Bedürfnisse zu wirkcn! Schwer wäre es zu entscheiden, was überwog, ob die Liebe oder
die Verehrung, die man für ihn hatte, schwer, wie viel von seincr milven Güte auf Rechnung dcr Grundsätzc
oder der natürlichen Neigung zu setzen sei. Mit Sokrates möchte er am richtigsten zu verglcichen sein: dieselbe
praktische Lebensweisheit, dieselbe Schonung und Gcrechtigkeit gegcn abweichende Meinungen und Anfichten, dieselle
gutmüthige Dulbung fremder Schwächen und Vorurtheile, dieselbe Behutsamkcit, keincn Anstoß zu geben, dieselbe
Billigkeit im Urthcil über andere, dieselbe vorsichtige Nachgiebigkeit gegen die einmal herrschcnde Denk- und Han-
delnswcise bei dem hellsten Kopf und dem freisten unbefangensten Geist! Wohl liegt hierin ein Bewets, daß seine
über alles sich verbreitende Güte nicht blos ctwas Angebornes, sondern zugleich ein Produkt des hellen und reichcn
Verstandes war. Einst als cr an einem frühen Morgen einem Zögling besondern Unterricht geben wollte, fühlte
er heftige Zahnschmerzen, ohne an etwas AndereS oder GefährlichereS zu denken, und ohne zu merken, was mit
ihm vorgegangen war; denn da der Zögling eintrat, fand sich's, daß er nicht mehr reden konnte. Ein Schlag
hatte ihn der Sprache beraubt. Freilich bcsserte es auf die angewendeten Mittel hin allmälig wicder, abcr er
mußle nun doch, wie ein Kind, jede Sprache wieder von vorn an lernen, er, der des Lateinischen, Griechischen,
 
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