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Zürcher Kunstgesellschaft [Hrsg.]
Neujahrsblatt / Zürcher Kunstgesellschaft — 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.43221#0007
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wischen 1887 und 1889 bin ich ein- oder zweimal
Rodo in dem Atelier meines Vaters begegnet. Er
erschien dort gewöhnlich mit Maurice Baud und dem
Dichter Charles Morice. Der letztere, ein bleicher Christus
von sonorer Beredsamkeit, erregte damals allein meine jugend-


liche Neugierde.
Meine erste lebendige Erinnerung an Rodo datiert aus dem
Jahr 1890. Wir richteten uns damals in dem altersbraunen Chalet
von Äschi ein, wo mein Vater seine Enttäuschungen vergass und
seine Hoffnungen neubelebte. Es war an einem Sommermorgen,
die Berge verschmolzen ihre Schatten mit dem Blau des Him-
mels, als plötzlich Porthos, unser Bernhardiner, heftig zu knur-
ren begann und aus seinem Hundehaus sprang. Zwei Figuren
von seltsamem Aussehen erregten seinen Zorn. Sie trugen
beide einen Rock aus grauem, grob gerippten Barchentstoff,
dazu Lackschuhe, und als Kopfbedeckung einen Zylinderhut
mit flacher Krempe. Auf den ersten Blick erkannte ich den
Bildhauer Maurice Reymond, der kurz zuvor in Paris eine Büste
meines Bruders Valentin gemeisselt hatte. Sein Begleiter war
Rodo. Das vom Sonnenbrand entzündete Antlitz machte ihn

fast unkenntlich. Er hatte sich um jene Zeit noch keinen
Bart wachsen lassen. Mit seiner untersetzten Gestalt, den vor-
springenden Augen und der sokratischen Nase glich er einem
Priapus, wie man sie in den Gärten findet, in der Verkleidung
eines Kunstjüngers.
Mein Vater, der den jungen Künstlern stets entgegenkam,
nahm sie mit offenen Armen auf. Die Unterhaltung, die das
Mahl würzte, war charmant. Rodo schilderte uns in seiner
pittoresken Weise voll feinen Humors seine Reise: in Basel
hatten die Schornsteinfeger, beim Anblick ihrer professionellen
Zylinder, mit ihnen fraternisiert. In Schaffhausen hatten sie

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