LASAR SEGALL
Von Paul F. Schmidt
Wenn das Werk Lasar Segall’s jetzt zum erstenmal zusammen-
gefaßt vor der Öffentlichkeit erscheint, so ist vor allem dies im
Auge zu behalten, daß hier das Resultat einer zwölfjährigen Entwicklung
— unterbrochen und schwer gehemmt durch den großen Krieg —
vorliegt, von der selbst die interessierte Welt, mit geringen Ausnahmen,
kaum etwas zu sehen bekommen hat. Denn obwohl in Dresden,
Chemnitz, Essen, Hagen (Kollektivschau 1920), Frankfurt a. M. und
Düsseldorf von ihm Werke auf Ausstellungen erschienen und sogar
dort in Museen aufgenommen wurden, kennt ihn die große Öffent-
lichkeit nur wenig. Seine Zurückhaltung war übertrieben, seine
Arbeiten verschwanden bei Privatleuten oder blieben in seinem
Atelier.
Und doch ist Segall neben Kandinsky und Chagall der
russische Maler, der am stärksten östliches Wesen verkörpert und
sicherlich einen intensiveren Beitrag zur Erkenntnis der russisch-
jüdischen Seele geliefert hat als selbst Chagall. Gegenüber der
starken Beweglichkeit dieses seines engeren Landsmannes und seiner
Angleichung an die westliche Kulturform (die bei dem vierten Großen
aus Rußland: Archipenko, noch offenbarer hervortritt) bedeutet
seine Kunst die nachdrücklichste Vertiefung in den Geist der östlichen
Schwermut, durch Dostojewski uns literarisch am intimsten vertraut.
Segall ist darum der echteste Vertreter des Russentums und der Seele
des östlichen Juden zugleich, weil er sich mit starker Einseitigkeit auf
das eine, das zentrale Problem jener Menschen konzentriert hat, auf
die Melodie des Pessimismus, auf die unüberwindliche Melancholie
des östlichen Leides. Bei Segall wird das Zwangsläufige künstlerischen
Schaffens so augenfällig, wie es bei verwandter Anschauung vielleicht
nur noch bei Ruis da el uns entgegentritt. Die Organisation der
Seele — zeitweilig wieder em verpönter Begriff — ist so übermächtig,
daß sie von sich aus eine zwingende Form erschafft. Alles, was er malt
oder zeichnet, und die graphische Form in jeder Gestalt ganz ebenso
wie die malerische seiner Bilder, nimmt mit der Notwendigkeit einer
Naturgewalt einen sehr besonderen Ausdruck transcendentalen Leides
an. Den schlagenden Beweis dafür geben nicht etwa nur die Haupt-
werke seiner wesentlichen Schaffenszeit in Dresden, geschart um das
großartige Symbol der „Ewigen Wanderer“, sondern nachdrücklichst
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Von Paul F. Schmidt
Wenn das Werk Lasar Segall’s jetzt zum erstenmal zusammen-
gefaßt vor der Öffentlichkeit erscheint, so ist vor allem dies im
Auge zu behalten, daß hier das Resultat einer zwölfjährigen Entwicklung
— unterbrochen und schwer gehemmt durch den großen Krieg —
vorliegt, von der selbst die interessierte Welt, mit geringen Ausnahmen,
kaum etwas zu sehen bekommen hat. Denn obwohl in Dresden,
Chemnitz, Essen, Hagen (Kollektivschau 1920), Frankfurt a. M. und
Düsseldorf von ihm Werke auf Ausstellungen erschienen und sogar
dort in Museen aufgenommen wurden, kennt ihn die große Öffent-
lichkeit nur wenig. Seine Zurückhaltung war übertrieben, seine
Arbeiten verschwanden bei Privatleuten oder blieben in seinem
Atelier.
Und doch ist Segall neben Kandinsky und Chagall der
russische Maler, der am stärksten östliches Wesen verkörpert und
sicherlich einen intensiveren Beitrag zur Erkenntnis der russisch-
jüdischen Seele geliefert hat als selbst Chagall. Gegenüber der
starken Beweglichkeit dieses seines engeren Landsmannes und seiner
Angleichung an die westliche Kulturform (die bei dem vierten Großen
aus Rußland: Archipenko, noch offenbarer hervortritt) bedeutet
seine Kunst die nachdrücklichste Vertiefung in den Geist der östlichen
Schwermut, durch Dostojewski uns literarisch am intimsten vertraut.
Segall ist darum der echteste Vertreter des Russentums und der Seele
des östlichen Juden zugleich, weil er sich mit starker Einseitigkeit auf
das eine, das zentrale Problem jener Menschen konzentriert hat, auf
die Melodie des Pessimismus, auf die unüberwindliche Melancholie
des östlichen Leides. Bei Segall wird das Zwangsläufige künstlerischen
Schaffens so augenfällig, wie es bei verwandter Anschauung vielleicht
nur noch bei Ruis da el uns entgegentritt. Die Organisation der
Seele — zeitweilig wieder em verpönter Begriff — ist so übermächtig,
daß sie von sich aus eine zwingende Form erschafft. Alles, was er malt
oder zeichnet, und die graphische Form in jeder Gestalt ganz ebenso
wie die malerische seiner Bilder, nimmt mit der Notwendigkeit einer
Naturgewalt einen sehr besonderen Ausdruck transcendentalen Leides
an. Den schlagenden Beweis dafür geben nicht etwa nur die Haupt-
werke seiner wesentlichen Schaffenszeit in Dresden, geschart um das
großartige Symbol der „Ewigen Wanderer“, sondern nachdrücklichst
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