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Gall
sichtig ausgedrückt. Man könnte thesenhaft schärfer formulieren, daß die zen-
trale Bedeutung, die der Kulturkampf für die gesamte innere Entwicklung
Deutschlands erlangt hat, bisher noch gar nicht in ihrem vollen Umfang erfaßt
worden ist2. Hierfür lassen sich vor allem drei Gründe geltend machen. Zum
einen, daß der Kulturkampf lange Zeit allzu einseitig unter dem Aspekt einer
Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche gesehen worden ist, bei
der die Liberalen auf der einen, das Zentrum auf der anderen Seite gewissermaßen
nur als Hilfstruppen wirkten. Damit aufs engste verknüpft ist ein zweiter Punkt:
bis in unsere Zeit hinein sind der Kulturkampf und seine Probleme nur allzu oft
im Stile der „histoire engagee“ behandelt worden. Damit aber war von vornherein
die Chance der historischen Distanz vergeben, sich dem Urteil der Zeitgenossen
über Ursachen, Thema und Charakter der Auseinandersetzung zu entziehen.
Der dritte Grund schließlich scheint der wichtigste, weil er zugleich eine gewis-
sermaßen nicht person-, sondern sachbedingte Erklärung für die Einseitigkeit der
bisherigen Betrachtungsweise liefert. Er besteht darin, daß man bisher der Vor-
geschichte des preußisch-deutschen Kulturkampfes allzu geringe Aufmerksamkeit3
geschenkt resp. diese Vorgeschichte vielfach in Bereichen gesucht hat, die für die Ent-
wicklung der Auseinandersetzung nicht von entscheidender Bedeutung gewesen
sind. Man hat nämlich sehr oft nicht genügend berücksichtigt, daß dem preußisch-
deutschen Kulturkampf eine sich bereits zum Kulturkampf ausweitende Ausein-
andersetzung zwischen Staat und Kirche in Deutschland vorausgegangen war,
1 R. Morsey, Probleme der Kulturkampfforschung, in: Hist. Jahrbuch, Bd. 83 (1964)
S. 217.
2 Eine befriedigende Gesamtdarstellung des Kulturkampfs fehlt bisher. Das Werk von
Georg Franz (Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von der Säku-
larisation bis zum Abschluß des preußischen Kulturkampfes, München 1954) beruht —
ganz abgesehen von der höchst einseitigen Tendenz — auf einer zu schmalen Quellen-
grundlage, um ein ausgewogenes und umfassendes Bild geben zu können. E. Schmidt-
Volkmar hat für seine beiden Bände (Bismarcks Kampf mit dem politischen Katholizismus,
Teil I: Pius IX. und die Zeit der Rüstung 1848—1870, 2. Aufl. Hamburg 1942, und:
Der Kulturkampf in Deutschland 1871 —1890, Göttingen 1962) zwar eine Fülle neuer
Quellen erschlossen — dafür allerdings auch wichtige andere nicht benutzt, resp. nicht
benützen können —, ist in seiner Interpretation und Darstellung jedoch in einem Maße
von der „Reichsfeindideologie“ beherrscht, daß auch hier von einer wissenschaftlich be-
friedigenden, abgewogenen Behandlung der Gesamtproblematik des Kulturkampfs keine
Rede sein kann. Vgl. dazu a. R. Morsey (Anm. 1) S. 217 ff., sowie die umfangreiche Re-
zension von R. Lill: Der Kulturkampf in Deutschland, Bemerkungen zu einer neuen Dar-
stellung, in: Quellen und Forschungen aus ital. Archiven und Bibliotheken, Bd. XLII/
XLIII (1963) S. 571—91. — Die beste Zusammenfassung der Probleme, verbunden mit
einem höchst geistvollen Deutungsversuch bietet immer noch: H. Bornkamm, Die Staats-
idee im Kulturkampf, in: HZ 170 (1950) S. 41 ff. u. 273 ff.
3 Die sehr verdienstvolle neuere Quellenveröffentlichung von A. Constabei (Die Vor-
geschichte des Kulturkampfes, Quellenveröffentlichung aus den Beständen des Deutschen
Zentralarchivs, bearb. v. A. C., m. e. Einleitung v. F. Hartung, Berlin 1956) beschränkt
sich bekanntlich auf Preußen und auf die Zeit vom Juli 1870 bis Dez. 1872. — Zur Vor-
geschichte bietet immer noch am meisten die materialreiche Darstellung von K. Bachem:
Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, 9 Bde. (Köln 1926;—
1932); daneben s. a. L. Bergsträsser, Der politische Katholizismus, Dokumente seiner Ent-
wicklung, 2 Bde. (München 1921—23); K. Buchheim, Geschichte der christlichen Parteien
in Deutschland (München 1953) u. F. Vigener, Ketteier, Ein deutsches Bischofsleben (Mün-
chen-Berlin 1924). — Zum Forschungsstand und zu den Problemen der Kulturkampf-
forschung allgemein vgl. man R. Morsey (Anm. 1) und ders., Bismarck und der Kultur-
kampf. Ein Forschungsbericht, in: Archiv f. Kulturgesch. 39 (1957).
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sichtig ausgedrückt. Man könnte thesenhaft schärfer formulieren, daß die zen-
trale Bedeutung, die der Kulturkampf für die gesamte innere Entwicklung
Deutschlands erlangt hat, bisher noch gar nicht in ihrem vollen Umfang erfaßt
worden ist2. Hierfür lassen sich vor allem drei Gründe geltend machen. Zum
einen, daß der Kulturkampf lange Zeit allzu einseitig unter dem Aspekt einer
Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche gesehen worden ist, bei
der die Liberalen auf der einen, das Zentrum auf der anderen Seite gewissermaßen
nur als Hilfstruppen wirkten. Damit aufs engste verknüpft ist ein zweiter Punkt:
bis in unsere Zeit hinein sind der Kulturkampf und seine Probleme nur allzu oft
im Stile der „histoire engagee“ behandelt worden. Damit aber war von vornherein
die Chance der historischen Distanz vergeben, sich dem Urteil der Zeitgenossen
über Ursachen, Thema und Charakter der Auseinandersetzung zu entziehen.
Der dritte Grund schließlich scheint der wichtigste, weil er zugleich eine gewis-
sermaßen nicht person-, sondern sachbedingte Erklärung für die Einseitigkeit der
bisherigen Betrachtungsweise liefert. Er besteht darin, daß man bisher der Vor-
geschichte des preußisch-deutschen Kulturkampfes allzu geringe Aufmerksamkeit3
geschenkt resp. diese Vorgeschichte vielfach in Bereichen gesucht hat, die für die Ent-
wicklung der Auseinandersetzung nicht von entscheidender Bedeutung gewesen
sind. Man hat nämlich sehr oft nicht genügend berücksichtigt, daß dem preußisch-
deutschen Kulturkampf eine sich bereits zum Kulturkampf ausweitende Ausein-
andersetzung zwischen Staat und Kirche in Deutschland vorausgegangen war,
1 R. Morsey, Probleme der Kulturkampfforschung, in: Hist. Jahrbuch, Bd. 83 (1964)
S. 217.
2 Eine befriedigende Gesamtdarstellung des Kulturkampfs fehlt bisher. Das Werk von
Georg Franz (Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von der Säku-
larisation bis zum Abschluß des preußischen Kulturkampfes, München 1954) beruht —
ganz abgesehen von der höchst einseitigen Tendenz — auf einer zu schmalen Quellen-
grundlage, um ein ausgewogenes und umfassendes Bild geben zu können. E. Schmidt-
Volkmar hat für seine beiden Bände (Bismarcks Kampf mit dem politischen Katholizismus,
Teil I: Pius IX. und die Zeit der Rüstung 1848—1870, 2. Aufl. Hamburg 1942, und:
Der Kulturkampf in Deutschland 1871 —1890, Göttingen 1962) zwar eine Fülle neuer
Quellen erschlossen — dafür allerdings auch wichtige andere nicht benutzt, resp. nicht
benützen können —, ist in seiner Interpretation und Darstellung jedoch in einem Maße
von der „Reichsfeindideologie“ beherrscht, daß auch hier von einer wissenschaftlich be-
friedigenden, abgewogenen Behandlung der Gesamtproblematik des Kulturkampfs keine
Rede sein kann. Vgl. dazu a. R. Morsey (Anm. 1) S. 217 ff., sowie die umfangreiche Re-
zension von R. Lill: Der Kulturkampf in Deutschland, Bemerkungen zu einer neuen Dar-
stellung, in: Quellen und Forschungen aus ital. Archiven und Bibliotheken, Bd. XLII/
XLIII (1963) S. 571—91. — Die beste Zusammenfassung der Probleme, verbunden mit
einem höchst geistvollen Deutungsversuch bietet immer noch: H. Bornkamm, Die Staats-
idee im Kulturkampf, in: HZ 170 (1950) S. 41 ff. u. 273 ff.
3 Die sehr verdienstvolle neuere Quellenveröffentlichung von A. Constabei (Die Vor-
geschichte des Kulturkampfes, Quellenveröffentlichung aus den Beständen des Deutschen
Zentralarchivs, bearb. v. A. C., m. e. Einleitung v. F. Hartung, Berlin 1956) beschränkt
sich bekanntlich auf Preußen und auf die Zeit vom Juli 1870 bis Dez. 1872. — Zur Vor-
geschichte bietet immer noch am meisten die materialreiche Darstellung von K. Bachem:
Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, 9 Bde. (Köln 1926;—
1932); daneben s. a. L. Bergsträsser, Der politische Katholizismus, Dokumente seiner Ent-
wicklung, 2 Bde. (München 1921—23); K. Buchheim, Geschichte der christlichen Parteien
in Deutschland (München 1953) u. F. Vigener, Ketteier, Ein deutsches Bischofsleben (Mün-
chen-Berlin 1924). — Zum Forschungsstand und zu den Problemen der Kulturkampf-
forschung allgemein vgl. man R. Morsey (Anm. 1) und ders., Bismarck und der Kultur-
kampf. Ein Forschungsbericht, in: Archiv f. Kulturgesch. 39 (1957).