Die partei- und sozialgeschichtliche Problematik des badischen Kulturkampfs 123
Wählerschichten wahrnahm. Ihre Führer zogen daraus auch sehr bald die Kon-
sequenzen und konstituierten die Bewegung als „Katholische Volkspartei Ba-
dens“. Gleichzeitig entwickelten sie jetzt ganz offen ein Programm, das sich nicht
auf die kirchen- und kulturpolitischen Fragen beschränkte, sondern auch — wenn
auch noch immer sehr vorsichtig76 — die Interessen und Forderungen der von
ihr vertretenen Volksschichten widerspiegelte. Dabei blieb jedoch die im Ansatz
gegebene Problematik erhalten, ja wurde durch die doppelte Akzentuierung noch
verstärkt: einerseits blieb die neue Partei weiterhin die Hilfstruppe der Kirche
und erkannte deren Ziele als ihre eigenen an. Andererseits aber war sie an die
Interessen und Belange bestimmter sozialer Schichten gebunden, die die Kirche
ihrerseits sich nie voll zu eigen machen konnte, wollte sie nicht ihren Anspruch
aufgeben, eine alle Schichten der Gesellschaft umfassende Volkskirche zu sein.
Hieraus ergab sich, daß auch die Katholische Volkspartei — wie auf der anderen
Seite die Liberalen mit ihrer Theorie, der Liberalismus vertrete den „allgemei-
nen Stand“, sprich die aus den alten Ordnungen entlassene und befreite Gesell-
schaft insgesamt — den Anspruch erheben mußte, das Volk schlechthin zu
repräsentieren — eine Tatsache, die in Theorie und Praxis zum entscheiden-
den Hindernis für die Ausbildung und Fortentwicklung der Lehre wurde, daß
im modernen Verfassungsstaat „verschiedene Parteien in Vertretung berechtigter
76 Vgl. Anm. 73, s. a. d. Wahlaufruf zu den Wahlen zur Zweiten Kammer vom 1. 7.
69: Schulthess, Geschichtskalender 10 (1869) S. 191 f. — Die neue Partei nahm auch so-
gleich Kontakte zu der anderen, gleichfalls im großdeutschen Lager stehenden Oppositions-
partei, den Demokraten auf, die vornehmlich das städtische Kleinbürgertum repräsentier-
ten. Vor allem arbeitete sie mit ihr in der sogen. Wahlreformliga zusammen, die die Ein-
führung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Zweite
Kammer anstelle des bestehenden indirekten Zensuswahlrechts anstrebte: Material hierzu
bietet neben den Zeitungen der Nachlaß des ehemaligen Außenministers von Edelsheim,
der zu den führenden Köpfen der Wahlreformliga gehörte (GLA 69p/Hinterlegung von
Edelsheim, bes. Fasz. 425). Den Liberalen bot dieser Vorgang den gewünschten Anlaß,
in polemischer Form zu zeigen, daß der Anspruch der katholischen Bewegung, keine Partei,
sondern die Vertretung aller Katholiken zu sein, nur eine Fiktion sei, und ebenso ihre
Behauptung, sie repräsentiere die konservativen, konstruktiven Elemente im Staatsleben
gegenüber der liberalen Umsturzbewegung. Prominentester Wortführer dieser Attacken
war der badische Ministerpräsident Julius Jolly selber, der mit einem außerordentlich
scharfen Artikel gegen die neue Partei, „welche die Autorität der Kirche sich anmaßt, um
unter diesem Deckmantel einen Despotismus und eine Geistesknechtung zu versuchen, wie
Europa sie noch nie gesehen hat“, sehr geschickt versuchte, einerseits einen Keil zwischen
Kirche und Partei zu treiben, und andererseits die Liberalen wieder näher an das Mini-
sterium heranzuziehen, indem er ihnen auf diese Weise seine Entschlossenheit zu erkennen
gab, sie in ihrem Kampf gegen den parteipolitischen Gegner auch weiterhin mit aller
Kraft zu unterstützen: Karlsruher Zeitung vom 9. 5. 65, Entwurf GLA 52/Nachlaß Jolly,
Fasz. 8; vgl. a. die scharfe Antwort im Badischen Beobachter vom 12./13. 5. 69: „Die
Karlsruher Zeitung und die Agitation“. — Bezeichnend für die Sorge der neuen Partei,
es könne gelingen, mit dem Hinweis auf das Zusammengehen mit den Demokraten einen
Keil zwischen sie und die Kirche zu treiben, ist die Tatsache, daß ihre Führer in der Folge-
zeit alle Kontakte mit den Demokraten entschieden ableugneten. Manche von ihnen —
wie der Freiburger Rechtsanwalt Marbe auf einer Versammlung in Bruchsal (Karlsruher
Zeitung v. 11. 5. 69) — gingen sogar soweit, auch jetzt noch zu bestreiten, daß die neue
Katholische Volkspartei überhaupt eine politische Partei sei: sie sei weiterhin nichts als ein
ad-hoc-Zusammenschluß gläubiger Katholiken zur Verteidigung der Kirche und man be-
grüße den Tag, an dem ihre Existenz überflüssig werde. — Hierzu und zur Vorgeschichte
der Katholischen Volkspartei zwischen 1865—69 liegt jetzt ein Aufsatz von Julius Dorneich
im Freiburger Diözesanarchiv 84 (1964) vor, der unter anderem bereits die oben (Anm. 35)
erwähnte Dissertation von Herrn O. P. Vetter einsehen und verwerten konnte.
Wählerschichten wahrnahm. Ihre Führer zogen daraus auch sehr bald die Kon-
sequenzen und konstituierten die Bewegung als „Katholische Volkspartei Ba-
dens“. Gleichzeitig entwickelten sie jetzt ganz offen ein Programm, das sich nicht
auf die kirchen- und kulturpolitischen Fragen beschränkte, sondern auch — wenn
auch noch immer sehr vorsichtig76 — die Interessen und Forderungen der von
ihr vertretenen Volksschichten widerspiegelte. Dabei blieb jedoch die im Ansatz
gegebene Problematik erhalten, ja wurde durch die doppelte Akzentuierung noch
verstärkt: einerseits blieb die neue Partei weiterhin die Hilfstruppe der Kirche
und erkannte deren Ziele als ihre eigenen an. Andererseits aber war sie an die
Interessen und Belange bestimmter sozialer Schichten gebunden, die die Kirche
ihrerseits sich nie voll zu eigen machen konnte, wollte sie nicht ihren Anspruch
aufgeben, eine alle Schichten der Gesellschaft umfassende Volkskirche zu sein.
Hieraus ergab sich, daß auch die Katholische Volkspartei — wie auf der anderen
Seite die Liberalen mit ihrer Theorie, der Liberalismus vertrete den „allgemei-
nen Stand“, sprich die aus den alten Ordnungen entlassene und befreite Gesell-
schaft insgesamt — den Anspruch erheben mußte, das Volk schlechthin zu
repräsentieren — eine Tatsache, die in Theorie und Praxis zum entscheiden-
den Hindernis für die Ausbildung und Fortentwicklung der Lehre wurde, daß
im modernen Verfassungsstaat „verschiedene Parteien in Vertretung berechtigter
76 Vgl. Anm. 73, s. a. d. Wahlaufruf zu den Wahlen zur Zweiten Kammer vom 1. 7.
69: Schulthess, Geschichtskalender 10 (1869) S. 191 f. — Die neue Partei nahm auch so-
gleich Kontakte zu der anderen, gleichfalls im großdeutschen Lager stehenden Oppositions-
partei, den Demokraten auf, die vornehmlich das städtische Kleinbürgertum repräsentier-
ten. Vor allem arbeitete sie mit ihr in der sogen. Wahlreformliga zusammen, die die Ein-
führung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Zweite
Kammer anstelle des bestehenden indirekten Zensuswahlrechts anstrebte: Material hierzu
bietet neben den Zeitungen der Nachlaß des ehemaligen Außenministers von Edelsheim,
der zu den führenden Köpfen der Wahlreformliga gehörte (GLA 69p/Hinterlegung von
Edelsheim, bes. Fasz. 425). Den Liberalen bot dieser Vorgang den gewünschten Anlaß,
in polemischer Form zu zeigen, daß der Anspruch der katholischen Bewegung, keine Partei,
sondern die Vertretung aller Katholiken zu sein, nur eine Fiktion sei, und ebenso ihre
Behauptung, sie repräsentiere die konservativen, konstruktiven Elemente im Staatsleben
gegenüber der liberalen Umsturzbewegung. Prominentester Wortführer dieser Attacken
war der badische Ministerpräsident Julius Jolly selber, der mit einem außerordentlich
scharfen Artikel gegen die neue Partei, „welche die Autorität der Kirche sich anmaßt, um
unter diesem Deckmantel einen Despotismus und eine Geistesknechtung zu versuchen, wie
Europa sie noch nie gesehen hat“, sehr geschickt versuchte, einerseits einen Keil zwischen
Kirche und Partei zu treiben, und andererseits die Liberalen wieder näher an das Mini-
sterium heranzuziehen, indem er ihnen auf diese Weise seine Entschlossenheit zu erkennen
gab, sie in ihrem Kampf gegen den parteipolitischen Gegner auch weiterhin mit aller
Kraft zu unterstützen: Karlsruher Zeitung vom 9. 5. 65, Entwurf GLA 52/Nachlaß Jolly,
Fasz. 8; vgl. a. die scharfe Antwort im Badischen Beobachter vom 12./13. 5. 69: „Die
Karlsruher Zeitung und die Agitation“. — Bezeichnend für die Sorge der neuen Partei,
es könne gelingen, mit dem Hinweis auf das Zusammengehen mit den Demokraten einen
Keil zwischen sie und die Kirche zu treiben, ist die Tatsache, daß ihre Führer in der Folge-
zeit alle Kontakte mit den Demokraten entschieden ableugneten. Manche von ihnen —
wie der Freiburger Rechtsanwalt Marbe auf einer Versammlung in Bruchsal (Karlsruher
Zeitung v. 11. 5. 69) — gingen sogar soweit, auch jetzt noch zu bestreiten, daß die neue
Katholische Volkspartei überhaupt eine politische Partei sei: sie sei weiterhin nichts als ein
ad-hoc-Zusammenschluß gläubiger Katholiken zur Verteidigung der Kirche und man be-
grüße den Tag, an dem ihre Existenz überflüssig werde. — Hierzu und zur Vorgeschichte
der Katholischen Volkspartei zwischen 1865—69 liegt jetzt ein Aufsatz von Julius Dorneich
im Freiburger Diözesanarchiv 84 (1964) vor, der unter anderem bereits die oben (Anm. 35)
erwähnte Dissertation von Herrn O. P. Vetter einsehen und verwerten konnte.