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Schäfer, Alfons [Hrsg.]
Neue Forschungen zu Grundproblemen der badischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert — Oberrheinische Studien, Band 2: Karlsruhe: Kommissionsverlag G. Braun, 1973

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Becker, Josef; Ruffmann, Karl-Heinz [Gefeierte Pers.]: Baden, Bismarck und die Annexion von Elsaß und Lothringen: Karl-Heinz Ruffmann zum 50. Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.52720#0184
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Baden, Bismarck und die Annexion von Elsaß und Lothringen

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an außenpolitischer Einsicht überrascht allerdings weniger bei einem Außenmini-
ster, der wie der liberale Rudolf von Freydorf dem populären Verständnis der
Bismarckschen Realpolitik erlag und aus den Erfahrungen von 1870/71 — spe-
ziell im Hinblick auf die kleineren Nachbarn Deutschlands wie die Schweizer,
Holländer und Belgier — die Lehre zog, daß nur der „Rücksichtsloseste“ gefürch-
tet werde und Sympathie gewinne und man daher „als brutal, ränkevoll, rach-
süchtig bekannt sein“ müsse, wolle man „von Krämerseelen geliebt und verehrt
sein“107. Generell behielten für die Politiker des Grenzlandes Baden das Sicher-
heitsproblem und die Frage der nationalen Einigung gegenüber außenpolitischen
Erwägungen ihre Präponderanz.
Der heutige Betrachter der Problematik Elsaß-Lothringens im Jahre 1870 kann
sich nicht damit begnügen, die Fragen nach den Motiven des deutschen Rufes
nach Elsaß und Lothringen, nach der Unentrinnbarkeit oder Vermeidbarkeit der
von einem überbordenden Nationalismus in Bewegung gehaltenen Annexions-
bestrebungen wie ihrer Durchsetzung und schließlich im Fazit nach ihrer politi-
schen Zweckmäßigkeit zu stellen und zu beantworten. Es gab kaum einen Be-
fürworter der Rückeroberung von Elsaß und Lothringen, der sich nicht im klaren
darüber gewesen wäre, daß die betroffene Bevölkerung in ihrer überwältigenden
Mehrheit eine Abtrennung ihrer Länder von Frankreich ablehnte. Gerade die
badische Regierung wie auch die gesamte Öffentlichkeit im Großherzogtum heg-
ten darüber aus unmittelbarer Kenntnis der Stimmung in den besetzten Departe-
ments keinerlei Illusionen. Trotzdem hat der Wille der Elsässer und Lothringer
in den Überlegungen der Politiker praktisch doch nur da eine Rolle gespielt, wo
es galt, ein zusätzliches Motiv für die Angliederung an Preußen geltend zu ma-
chen. Dem Willen der Bevölkerung wurden im Geiste traditioneller territorial-
staatlicher Politik und Staatsräson die als unabdingbar aufgefaßten Bedürfnisse
der militärgeographischen Sicherheit108 und die Notwendigkeiten der national-
des Krieges“. — „Artom und Cantagalli waren von der Neuigkeit [Sieg bei Sedan] be-
troffen. Ich konnte mir nicht versagen, Artom zu bemerken: Jetzt werden Sie nicht mehr
von uns verlangen, daß wir Napoleon nur um die Erlaubnis bitten, in den Norddeut-
schen Bund einzutreten. [. . .] Abends besuchte ich wieder Artom, der morgen nach Flo-
renz abreist. Er blieb bei der Meinung, daß wir auf Erwerbung von Elsaß und Lothringen
im Interesse der Dauerhaftigkeit des Friedens verzichten sollen“ (GLA 69s Nachl. Frey-
dorf Fasz. 133). Zu Artoms diplomatischer Tätigkeit 1870 vgl. I. ed E. Artom, Iniziativc
neutralistische della diplomazia italiana nel 1870 e nel 1915. A cura di A. Artom. o. O.
[Turin] (1954), S. W. Halperin, Diplomat under Stress (Chicago 1963) S. 144-ff. und
auch R. Mori, Italien und die deutsche Einigungsgeschichte, in: Internat. Jb. f. Geschichts-
und Geographie-Unterricht 12 (1968/69).
107 Brief aus Holland v. 3. März 1875 nach: Aus der politischen Korrespondenz des
Präsidenten des badischen Ministeriums des Auswärtigen Rudolf v. Freydorf, in: Dte.
Revue 29 (1904) III, S. 288. Vgl. auch J. Albedyll-Alten, Aus Hannover und Preußen,
hg. R. Boschan (1914) S. 123 f.
108 Daß sie (wegen der unterschiedlichen Verteidigungs- bzw. Angriffsmöglichkeiten auf
dem östlichen Steilabfall bzw. der flacheren westlichen Gebirgsabdachung) mit dem Besitz
des Vogesenkamms in der optimalen Weise nicht gegeben war, sollte die Erfahrung des
I. Weltkriegs zeigen und dann konsequent (wie auch 1940) zu der Forderung führen,
Elsaß und Lothringen durch eine „Vormauer des Reiches“ zu schützen und aus ihrer „un-
glücklichen Grenzlage“ zu erlösen (so F. Metz, Landschaft und Siedlung im Elsaß und in
Lothringen, in: Elsaß und Lothringen deutsches Land, S. 56 f.; vgl. auch O. Stoeckicht
(Anm. 7) S. 123 sowie E. Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa (1966) S. 75 ff. und
H. Michel, La Seconde Guerre Mondiale, I (Paris 1968) S. 190 ff.).
 
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