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Rürup
sagen können, das Judentum sei staatsgefährlich". Für die Radikalen wurde die
Deutung dieses Vorurteils jetzt zu einem Bestandteil ihrer allgemeinen Analyse
der politischen Verhältnisse. Der Abgeordnete Kapp stellte fest, daß die Juden
fast ausschließlich dort verhaßt seien, wo — wie er sagte — „man das Volk ge-
gen sie fanatisiert, um den Haß, den es auf schwärzere Naturen werfen würde,
von diesen abzulenken", und er forderte Zustände, „welche den Nothandel und
den Wucher nicht selbst erzeugen, d. h. Zustände ohne Bauernnot, ohne blut-
saugende Steuern, ohne Teuerung der ersten Lebensbedürfnisse, ohne Monopole
etc. Sach- und zeitgemäß organisiere man die Arbeit, schütze man die kleine In-
dustrie, und mit dem christlichen Wucher wird auch der jüdische abnehmen!“
Friedrich Hecker schließlich versuchte darüber hinaus eine sozialpsychologisch-
politische Deutung des traditionellen Verhaltens: „In Staaten, wo wir uns täglich
erdrückt fühlen von der Last des Polizeistaates, tut es wohl, wenn man noch
einen sieht, der schlechter gestellt ist, den man verachten und knuffen, an dessen
Mißhandlung man sich etwas erholen kann von der täglichen Bedrückung und
Verkümmerung des Polizeistaats. In der Unfreiheit der Staaten, in dem Druck,
in der Verkümmerung liegt es, warum wir die Juden nicht emanzipieren wollen.
Indem wir die Juden knufften, glaubten wir uns selbst freier und höher stehend.
Das ist das Rätsel der Sphinx in dieser Frage . . .“ Die Emanzipationsfrage wurde
für die Radikalen jetzt zu einem grundsätzlich politischen Problem, das im tief-
sten mit der in schneidenden Worten — und bald auch in Taten — bekämpften
gesellschaftlichen und politischen Situation der Gegenwart verbunden war. Die
gemäßigten Liberalen, von denen ein Teil schon immer für die Emanzipation ein-
getreten war, konnten unter diesen Umständen nicht zurückstehen — die volle
Gleichstellung wurde zur Forderung der gesamten liberalen und demokratischen
Opposition.
Eine Gesetzesvorlage auf Grund des Kammerbeschlusses kam allerdings nicht
mehr zustande. Wechsel im Ministerium und dann der Ausbruch der 48er Revo-
lution verhinderten die Ausführung — die Emanzipationsfrage geriet in den
Sturm der revolutionären Ereignisse. Diese zeigten freilich zunächst ein ganz an-
deres- Gesicht, als die Debatte von 1846 hätte erwarten lassen. Die Bauernauf-
stände im März und April begannen mit Judenverfolgungen, in denen der tot-
gesagte Judenhaß wieder zu erstehen schien. Vor allem im Kraichgau und im
Odenwald blieb kaum ein von den Juden bewohntes Dorf verschont: Häuser
wurden geplündert und demoliert, ganze Familien zur Flucht gezwungen, Geld
und falsche Quittungen erpreßt. Die Verfolgungen übertrafen an Heftigkeit und
Umfang die von 1819 erheblich. Es handelte sich aber nicht wie damals um den
plötzlichen Ausbruch eines allgemeinen Judenhasses als Folge judenfeindlicher
Agitation, sondern vielmehr um den Versuch einer gewaltsamen Lösung konkre-
ter wirtschaftlicher und sozialer Mißstände, in die auch die Juden verwickelt wa-
ren. Es ist kein Zufall, daß sich die Aufständischen gegen Juden, grundherrliche
Schlösser und Rentkammern, ja selbst gegen einzelne reiche Pfarrer gleicher-
maßen wandten. Die großen Mißernten von 1846/47 hatten auf dem Lande eine
unvorstellbare Not entstehen lassen, die allenthalben in Deutschland zu Agrar-
unruhen führte. In Baden kamen besondere Umstände hinzu, die für die Juden
verhängnisvoll wurden. Das Zehntablösungsgesetz von 1833 hatte die Bauern
hier in großem Umfang zu Schuldnern der Juden werden lassen, die die Ab-
lösungssummen vorgestreckt hatten. Diese finanzielle Belastung war gerade für
Rürup
sagen können, das Judentum sei staatsgefährlich". Für die Radikalen wurde die
Deutung dieses Vorurteils jetzt zu einem Bestandteil ihrer allgemeinen Analyse
der politischen Verhältnisse. Der Abgeordnete Kapp stellte fest, daß die Juden
fast ausschließlich dort verhaßt seien, wo — wie er sagte — „man das Volk ge-
gen sie fanatisiert, um den Haß, den es auf schwärzere Naturen werfen würde,
von diesen abzulenken", und er forderte Zustände, „welche den Nothandel und
den Wucher nicht selbst erzeugen, d. h. Zustände ohne Bauernnot, ohne blut-
saugende Steuern, ohne Teuerung der ersten Lebensbedürfnisse, ohne Monopole
etc. Sach- und zeitgemäß organisiere man die Arbeit, schütze man die kleine In-
dustrie, und mit dem christlichen Wucher wird auch der jüdische abnehmen!“
Friedrich Hecker schließlich versuchte darüber hinaus eine sozialpsychologisch-
politische Deutung des traditionellen Verhaltens: „In Staaten, wo wir uns täglich
erdrückt fühlen von der Last des Polizeistaates, tut es wohl, wenn man noch
einen sieht, der schlechter gestellt ist, den man verachten und knuffen, an dessen
Mißhandlung man sich etwas erholen kann von der täglichen Bedrückung und
Verkümmerung des Polizeistaats. In der Unfreiheit der Staaten, in dem Druck,
in der Verkümmerung liegt es, warum wir die Juden nicht emanzipieren wollen.
Indem wir die Juden knufften, glaubten wir uns selbst freier und höher stehend.
Das ist das Rätsel der Sphinx in dieser Frage . . .“ Die Emanzipationsfrage wurde
für die Radikalen jetzt zu einem grundsätzlich politischen Problem, das im tief-
sten mit der in schneidenden Worten — und bald auch in Taten — bekämpften
gesellschaftlichen und politischen Situation der Gegenwart verbunden war. Die
gemäßigten Liberalen, von denen ein Teil schon immer für die Emanzipation ein-
getreten war, konnten unter diesen Umständen nicht zurückstehen — die volle
Gleichstellung wurde zur Forderung der gesamten liberalen und demokratischen
Opposition.
Eine Gesetzesvorlage auf Grund des Kammerbeschlusses kam allerdings nicht
mehr zustande. Wechsel im Ministerium und dann der Ausbruch der 48er Revo-
lution verhinderten die Ausführung — die Emanzipationsfrage geriet in den
Sturm der revolutionären Ereignisse. Diese zeigten freilich zunächst ein ganz an-
deres- Gesicht, als die Debatte von 1846 hätte erwarten lassen. Die Bauernauf-
stände im März und April begannen mit Judenverfolgungen, in denen der tot-
gesagte Judenhaß wieder zu erstehen schien. Vor allem im Kraichgau und im
Odenwald blieb kaum ein von den Juden bewohntes Dorf verschont: Häuser
wurden geplündert und demoliert, ganze Familien zur Flucht gezwungen, Geld
und falsche Quittungen erpreßt. Die Verfolgungen übertrafen an Heftigkeit und
Umfang die von 1819 erheblich. Es handelte sich aber nicht wie damals um den
plötzlichen Ausbruch eines allgemeinen Judenhasses als Folge judenfeindlicher
Agitation, sondern vielmehr um den Versuch einer gewaltsamen Lösung konkre-
ter wirtschaftlicher und sozialer Mißstände, in die auch die Juden verwickelt wa-
ren. Es ist kein Zufall, daß sich die Aufständischen gegen Juden, grundherrliche
Schlösser und Rentkammern, ja selbst gegen einzelne reiche Pfarrer gleicher-
maßen wandten. Die großen Mißernten von 1846/47 hatten auf dem Lande eine
unvorstellbare Not entstehen lassen, die allenthalben in Deutschland zu Agrar-
unruhen führte. In Baden kamen besondere Umstände hinzu, die für die Juden
verhängnisvoll wurden. Das Zehntablösungsgesetz von 1833 hatte die Bauern
hier in großem Umfang zu Schuldnern der Juden werden lassen, die die Ab-
lösungssummen vorgestreckt hatten. Diese finanzielle Belastung war gerade für