das Schlimmste. Dies, und dal? ich in diesem
Augenblick den Traum imTraum durchschaute,
ihn in einer Sekunde vollständig erfaßte
und verstand. Nun weißt du es, sprach
etwas in mir, hörst du, nun weißt du alles
für immer, ganz bestimmt, du wirst nun
nie sagen können, du habest es nicht gewußt.
Ich wankte und schlug die Hände vors Ge-
sicht. Mein Führer stützte mich und sagte ganz
leise, als habe er Angst, mit einer ganz fernen
Stimme, die wieder aus mir heraus zu klingen
schien: „Und du? — Und du? — Nein, nein,
vergiß es nicht, o vergiß es doch wirklich nicht!“
Dann erwachte ich.
18. XII. 18.
Von Paul Frank (mit Zeichnungen tob Paul Neu)
EVERIN SWATOSCH,
dreiunddreißig Jahre alt,
seiner Freiheit und Un-
abhängigkeit wegen viel-
beneidet, von angeneh-
mem Äußern, dessen er
sich zwar nur selten be-
wußt war, wenn die ihn
hartnäckig bedrängende
Unsicherheit vorüber-
gehend aussetzte, er-
wachte, freudig erregt, da er diesen Morgen
überraschenderweise sich nicht von der alle
Glieder lähmenden, die Augendeckel blei-
schwer niederdrückenden Melancholie gefes-
selt fühlte. Der frei durch das Fenster fallende
Blick sah die saubere Trockenheit der um-
liegenden Dächer, darüber den Himmel, der
die Farbe einer hellgrünseidenen Gardine
angenommen hatte; die hierauf gewonnene
Erkenntnis, daß trotz Weihnachtsnähe das
Thermometer acht Grade über Null anzeigte,
vermochte es, im Verein mit den flink wirksam
werdenden Künsten des alsbald in Erschei-
nung tretenden Friseurs, insbesondere unter
Mitwirkung einer die langwierige, jedoch
keineswegs lästige Prozedur krönenden Ge-
sichtsmassage seine Laune auf eine unge-
wöhnliche Höhe zu heben, in deren Verlauf
er auch, eine Stunde später, auf der Straße
angelangt, den unerwarteten Entschluß faßte,
jene Frühstücksstube zu betreten, die der Treff-
punkt der eleganten Vormittagsdiebe und deren
nach allen Wohlgerüchen der Pariser Parfüm-
küchen duftenden Hehlerinnen war.
Da er die auf den papierblattdünnen, trans-
parenten Porzellanteller gebetteten, mit Gans-
leberpastete und Hummerscheren ornamentier-
ten Sandwiches in Empfang nahm und hiebei
eine leichte Wendung nach links vollführte, stieß
er ziemlich heftig mit einem neben ihm stehen-
den Herrn zusammen, der seine Mahlzeit be-
endet hatte und im Begriffe war, mit einer
Banknote, die er aus der Brieftasche geholt
hatte, seine Schuld zu begleichen.
»Verzeihung, mein Herr«, sagte Severin
Swatosch höflich und lüftete den Hut. Er sah
in zwei grüne Augen, die, hinter dicken Brillen-
gläsern, im Rahmen rotgeränderter Lider saßen,
sah eine pergamentig zerfaltete, gelbliche Ge-
sichtshaut, die von einem schwarzen, spitz zu-
laufenden Bart umkräuselt war.
Severin Swatosch strich mit der anderen
Hand unwillkürlich über seine Stirn, da der
Blick des Fremden ihn beinahe körperlich be-
rührt hatte; gleichzeitig war ihm, als kitzele
ihn auf Brust und Rücken die haarige Innen-
fläche eines wollenen Leibchens. So daß er,
dessen Stimmung durch ein geringfügiges Er-
eignis völlig umzuschlagen vermochte, es be-
dauerte, in den Laden eingetreten zu sein. Als
er die Augen öffnete, fand er sich neben einer
hochbusigen Dame stehend, deren flachsgelbes
Haar eine Art Turban krönte, während der
Fremde verschwunden war. Da sein Blick zu
Boden glitt, sah er dort, vor seinen Füßen, an
den Ladentisch gelehnt, ein Zettelchen liegen,
nach dem er sich bückte, das er aufhob und in
dem er alsbald ein Blatt aus einem Vormerk-
kalender erkannte, das in roter Schrift am obe-
ren Rande das Datum: 18. Dezember 1918 trug.
Das ist ja der heutige Tag ... murmelte Se-
verin Swatosch, der gleichzeitig seines schwarz-
bärtigen Nachbarn von vorhin sich erinnerte,
dem, wie er überzeugt war, das Kalenderblatt
aus der Brieftasche gefallen sein mußte. Er
Augenblick den Traum imTraum durchschaute,
ihn in einer Sekunde vollständig erfaßte
und verstand. Nun weißt du es, sprach
etwas in mir, hörst du, nun weißt du alles
für immer, ganz bestimmt, du wirst nun
nie sagen können, du habest es nicht gewußt.
Ich wankte und schlug die Hände vors Ge-
sicht. Mein Führer stützte mich und sagte ganz
leise, als habe er Angst, mit einer ganz fernen
Stimme, die wieder aus mir heraus zu klingen
schien: „Und du? — Und du? — Nein, nein,
vergiß es nicht, o vergiß es doch wirklich nicht!“
Dann erwachte ich.
18. XII. 18.
Von Paul Frank (mit Zeichnungen tob Paul Neu)
EVERIN SWATOSCH,
dreiunddreißig Jahre alt,
seiner Freiheit und Un-
abhängigkeit wegen viel-
beneidet, von angeneh-
mem Äußern, dessen er
sich zwar nur selten be-
wußt war, wenn die ihn
hartnäckig bedrängende
Unsicherheit vorüber-
gehend aussetzte, er-
wachte, freudig erregt, da er diesen Morgen
überraschenderweise sich nicht von der alle
Glieder lähmenden, die Augendeckel blei-
schwer niederdrückenden Melancholie gefes-
selt fühlte. Der frei durch das Fenster fallende
Blick sah die saubere Trockenheit der um-
liegenden Dächer, darüber den Himmel, der
die Farbe einer hellgrünseidenen Gardine
angenommen hatte; die hierauf gewonnene
Erkenntnis, daß trotz Weihnachtsnähe das
Thermometer acht Grade über Null anzeigte,
vermochte es, im Verein mit den flink wirksam
werdenden Künsten des alsbald in Erschei-
nung tretenden Friseurs, insbesondere unter
Mitwirkung einer die langwierige, jedoch
keineswegs lästige Prozedur krönenden Ge-
sichtsmassage seine Laune auf eine unge-
wöhnliche Höhe zu heben, in deren Verlauf
er auch, eine Stunde später, auf der Straße
angelangt, den unerwarteten Entschluß faßte,
jene Frühstücksstube zu betreten, die der Treff-
punkt der eleganten Vormittagsdiebe und deren
nach allen Wohlgerüchen der Pariser Parfüm-
küchen duftenden Hehlerinnen war.
Da er die auf den papierblattdünnen, trans-
parenten Porzellanteller gebetteten, mit Gans-
leberpastete und Hummerscheren ornamentier-
ten Sandwiches in Empfang nahm und hiebei
eine leichte Wendung nach links vollführte, stieß
er ziemlich heftig mit einem neben ihm stehen-
den Herrn zusammen, der seine Mahlzeit be-
endet hatte und im Begriffe war, mit einer
Banknote, die er aus der Brieftasche geholt
hatte, seine Schuld zu begleichen.
»Verzeihung, mein Herr«, sagte Severin
Swatosch höflich und lüftete den Hut. Er sah
in zwei grüne Augen, die, hinter dicken Brillen-
gläsern, im Rahmen rotgeränderter Lider saßen,
sah eine pergamentig zerfaltete, gelbliche Ge-
sichtshaut, die von einem schwarzen, spitz zu-
laufenden Bart umkräuselt war.
Severin Swatosch strich mit der anderen
Hand unwillkürlich über seine Stirn, da der
Blick des Fremden ihn beinahe körperlich be-
rührt hatte; gleichzeitig war ihm, als kitzele
ihn auf Brust und Rücken die haarige Innen-
fläche eines wollenen Leibchens. So daß er,
dessen Stimmung durch ein geringfügiges Er-
eignis völlig umzuschlagen vermochte, es be-
dauerte, in den Laden eingetreten zu sein. Als
er die Augen öffnete, fand er sich neben einer
hochbusigen Dame stehend, deren flachsgelbes
Haar eine Art Turban krönte, während der
Fremde verschwunden war. Da sein Blick zu
Boden glitt, sah er dort, vor seinen Füßen, an
den Ladentisch gelehnt, ein Zettelchen liegen,
nach dem er sich bückte, das er aufhob und in
dem er alsbald ein Blatt aus einem Vormerk-
kalender erkannte, das in roter Schrift am obe-
ren Rande das Datum: 18. Dezember 1918 trug.
Das ist ja der heutige Tag ... murmelte Se-
verin Swatosch, der gleichzeitig seines schwarz-
bärtigen Nachbarn von vorhin sich erinnerte,
dem, wie er überzeugt war, das Kalenderblatt
aus der Brieftasche gefallen sein mußte. Er