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nahm sich gar nicht erst die Muhe, die unter-
halb des Datums anschließenden Bleistiftzeilen
zu lesen; er hielt vielmehr im Raum Umschau,
forschte nach allen Richtungen, war bemüht,
trotz des imHintergrund schwingendenQualms,
der die Sicht verwehrte, bis in den entlegen-
sten Winkel zu dringen, fühlte sich von einer
Vielzahl unbekannter, gleichgültiger Gesichter
behelligt, deren Überflüssigkeit ihn jetzt zehn-
fach peinlich berührte.
Da der Fremde verschwunden blieb, be-
schloß er, sich zu entfernen.
«Zahlen ...» sagte er.
Das Fräulein im weissen Kleid mit der
schmalen schwarzen Schürze sah ihn lächelnd
an. «Noch einmal... ?» fragte sie.
«Wieso denn noch einmal... ?» gab er un-
willig zurück.
«Der Herr haben doch gerade bezahlt. Zwei
Glas Boonekamp und eine Makronentorte ...»
Da die Verkäuferin einem anderen Kunden
sich zuwandte, knöpfte er seinen Uberrock ent-
schlossen zu, während ihn jene ihm gleich be-
kannte wie verhaßte Unsicherheit im Nacken
brannte und eine heisse Röte in seine Wangen
stieg, bahnte sich den Weg inmitten der ihn
umdrängenden, kauenden, schlürfenden, mit
dem Löffel klappernden Tratschsüchtigen, riß
mit einer hastigen Bewegung den Hut vom
Kopf, da er, dicht vor seinen Augen, Frau
Konsul Gintl, die Bridge-
partnerin seiner imVorjahre
verstorbenen Mutter er-
blickte, und war aufrichtig
verwundert, als der er-
staunte Blick der Dame, die
kaum mit einem leichten
Kopfnicken den Gruß er-
widerte, ihm sagte, daß man
ihn anscheinend nicht kannte
oder erkannte. Ein Umstand,
der in ihm Befangenheit und
Unbehagen über die Maßen
steigerte, in deren Verlauf
ihm, endlich auf der Straße
angelangt, unschlüssig dar-
über, wohin er seine Schritte
lenken sollte, bewußt ward,
daß er das Kalenderblatt
noch immer zwischen Mit-

tel- und Zeigefinger der linken Hand hielt.
«Blumen» stand da in der ersten Zeile ge-
schrieben.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße
sah er ein breites Schaufenster, in dem bunte
Blütensterne, wohlgeordnet, in schlanken Glas-
vasen oder auf dunklen Samtkissen ruhend, den
Vorübergehenden grüßten.
Er betrat den Laden, wählte, da man ihm ein
bauchiges, grün lackiertes, mit Feldblumen aller
Art angefülltes Blechgefäßentgegenhielt,Mohn-
blumen, Erika, Küchenschelle und Riedgras aus.
«Wie gewöhnlich...» sagte die Frau, den
von der am Wandhaken befestigten Spule lau-
fenden Goldfaden mit flinken Fingern um die
Stiele führend. Obwohl Severin wußte, daß
er hier noch niemals auch nur ein Gänseblüm-
chen erstanden hatte, tat er durchaus nicht er-
staunt, sondern schickte sich an, zu bezahlen.
« Aber, gnädiger Herr...» wehrte die freund-
liche Frau ab, «am Ersten kommt ja die Rech-
nung. Und wie jeden Mittwoch — an die
übliche Adresse, nicht wahr?»
Ein plötzlicher Zorn überfiel ihn, über den
er sich vorerst keine Rechenschaft zu geben
wußte; ein heftiger V/unsch, sich zur Wehre
zu setzen, ward in ihm lebendig, der ihn zum
Widerspruch veranlaßte: «Nein... Heute sind
die Blumen anders zu dirigieren ...» Er legte
seine Stirn in Falten und dachte eine Sekunde
lang angestrengt nach. Irgend
ein willkürlich gewählter,
im Augenblick geprägter
Frauenname war bald ge-
funden. «An Fräulein Vik-
toria Hondel ...» setzte
er, befriedigt Atem holend,
fort.
«Dann also doch an die
übliche Adresse...» lächelte
die Frau und holte gleich-
zeitig ein Notizbuch aus der
Tischlade hervor, das sie,
auf gebl ättert, ihm vor Augen
hielt. «Frl. Viktoria Hondel,
vierter Bezirk, Schaumbur-
gergasse 4 ...»
Ihn fröstelte, obwohl er
die bestimmte Empfindung
hatte, ein wollenes Leibchen


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