DAS TREIBHAUS
WUNDERLICHES UND ABSONDERLICHES
Dieser Teil des „Orchideengarten" wird von Dr. Max Kemmerich bestellt.
Geheimnisvolle Musik
Der schwedische Dichter Verner von Hei-
denstam Lat laut einer Mitteilung im Juniheft
1914 der „Neuen Zeitschrift für Musik“ (81.
Jahrgang, Leipzig) vor einiger Zeit ein seltsames,
unerklärliches Erlebnis gehabt, das sein Lands-
mann, der Tondichter Gösta Gejer in einem
neu erschienenen Buch über musikalische Pro-
bleme mitteilt. Er hatte sich für den Winter
ein Rittergut in Södermaniand gemietet, das
seit vielen Jahren unbewohnt dastand; hier
glaubte er ungestört arbeiten zu können. Mitten
in der Nacht wurde er nun oft von einer wun-
derlichen Musik geweckt, deren Herkunft ein
Rätsel blieb. Die Tonfolge und Töne unter-
schieden sich von aller Musik, die er je gehört
hatte, sie schienen von einem alten, eigentüm-
lichen, vielleicht harfenähnlichen Instrumente
zu kommen. Die Musik begann, so schien es,
in der einen Ecke des Zimmers und floß nach
und nach an die andere Seite über, um endlich
durch die Wand zu verschwinden. Auch die
Frau des Dichters, die sehr musikalisch war,
hörte diese geheimnisvolle Musik und konnte
sie bald auswendig. Eines Tages, als sie in die
Küche trat, trällerte sie leise die Melodie vor
sich hin. Erstaunt hielt sie inne, als sie die
Augen des Dienstmädchens verwundert auf
sich gerichtet fühlte. Es stellte sich heraus,
dal? auch das Dienstmädchen seit langem die
mystische Musik regelmäßig nachts gehört hatte.
Sie erkannte die Melodie sofort wieder. Hei-
denstam zeichnete die Melodie auf und schickte
die Noten dem Komponisten Gejer, der nicht
wenig überrascht und betroffen war. Denn es
zeigte sich bei fachmäßiger Untersuchung, daß
sie sich auf einer mittelalterlichen Tonleiter
aufbaute, der sogenannten mixolydischen Ton-
leiter, die weder Heidenstam noch seine Frau
kannten, und von deren Existenz beide keine
Ahnung gehabt hatten.
Dieses seltsame Erlebnis erzählt Wirchow im
„Merker“. Zur Bekräftigung der Erscheinung
gibt er die Melodie in Noten wieder und fügt
auch einen Brief Verner von Heidenstams bei,
der die Erzählung vollinhaltlich bestätigt, und
schließlich ist er in der Lage, ein Seitenstück
zu dieser rätselhaften Musik anzuführen, für
das ein Buch aus dem Jahre 1740 den Beleg
bildet. Dieses in Hamburg erschienene Buch
führt den Titel „Etwas Neues unter der Son-
nen oder das unterirdische Klippen-Konzert
in Norwegen, aus glaubwürdigen Urkunden
auf Begehren angezeigt von Mattheson“. Dieser
Mattheson war ein vielseitiger Musiker und
Musikschriftsteller; in seinem Buche teilt er
seinen Briefwechsel mit dem ihm befreundeten
General Georg von Bertuch mit, und dieser
legte ihm eines Tages eine merkwürdige Ur-
kunde bei, die Heinrich Meyer, „Stadtmusikant
in Christiania bei Aggerhuus“ am 4. Januar
1740 unterzeichnet hat und für deren lautere
Wahrheit er sich verbürgt.
Es wird darin erzählt, wie er im Jahre 1695
bei einer Musikprobe war. Ein Bauer kam zu-
fällig dazu. Im Scherz sagte der Lehrherr:
JDu bekommst heute kein Geld für deine Butter
und Milch, denn du hast genug zugehört zur
Bezahlung.“ Hierauf erwiderte der Bauer:
„Der und der hole mich, höre ich es nicht alle
V/eihnachtsabend viel besser, ein klein Stück
Weg von meinem Hofe in den Klippen da-
selbst.“ Der Lehrherr, der Kantor und der
Organist lachten den Bauer zuerst aus, dann
aber gingen sie zu ^Veihnachten mit ihm in
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