Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ebenso zurückgezogen lebte wie dieser. Die
Frau war schon seit mehreren Jahren an den
Füßen gelähmt, und man wußte beinahe nicht
mehr, wie sie aussah. Der Mann aber hatte
nach dem Unglücksfall seinen Posten als kleiner
Privatheamter aufgegeben, um seine Frau nicht
allein lassen zu müssen, und den Vorraum der
Wohnung als Buchbinder-Werkstätte her-
gerichtet. Es ist wahr, daß dieses Gewerbe
ihm anfangs mehr Hunger als Lebensquellen
eingetragen hatte; nachdem aber einmal die
ersten Kunden gewonnen worden waren, half
das Mitleid der Leute schon weiter. Schließlich
hatte er so viel Arbeit, daß er den ganzen Tag
in seiner Werkstätte sitzen mußte und so nur
durch die offene Tür zu seiner Frau reden
konnte, die, im Bette oder an guten Tagen im
Lehnstuhl liegend, hin und wieder leise Ant-
worten gab. Nur ein oder zwei Mal in der
Woche, wenn eine Kusine seiner Frau zu
Besuch kam, verließ er die V/ohnung, um ein
wenig Luft zu schöpfen, kehrte aber immer
schon vor dem Nachtmahl heim und jedesmal
von dem Treiben der Straße ein wenig ermüdet
und verwirrt.
Es geschah nun eines Abends im Frühling,
da un Hof unten der Kastanienbaum mit Kerzen
übersäet war, daß es
an die Wohnung des
Cellisten klopfte,
während er gerade
daran war, das In-
strument zu stimmen.
Ärgerlich stand er
auf und öffnete die
Tür. Im Halblicht
des Ganges stand sein
Nachbar und sagte:
„Verzeihen Sie
vielmals - bitte - ich
möchte nicht gern
stören -.“
Er stockte. Der
Cellist, ungeduldig
und nur mit ganz
schmalen Augen un-
ter den Lidern auf-
blinzelnd, zauste in
seinem roten Bart
und sagte: „Womit
kann ich dienen?“

Dem Nachbar schien es schwer zu werden,
sich seines Anliegens zu entledigen. Seine Lip-
pen setzten einige Male vergeblich zum Sprechen
an, bis er endlich, schnell, verwirrt, mit irren-
den Augen alles erzählte;
„Wir, meine Frau und ich nämlich, hören
Ihnen immer abends zu. Ich weiß nicht, ob Sie
wissen, daß meine Frau seit Jahren gelähmt ist
und daß sie nichts hat als das bißchen blauen
Himmel, der zu uns hereinleuchtet. So freut
sie sich immer auf den Ahend, wenn Sie spie-
len. Und wird dann immer gesünder und fröh-
licher und vergißt alles.“
Wieder stockte er. Der Cellist aber sagte
höflich: „Bitte sagenSie nur, was Sie wünschen.“
Dadurch aufgemuntert, fuhr der Mann fort:
„Es geht ihr heute besonders schlecht. Schon
die ganze letzte Zeit hat sie noch weniger
Appetit als sonst und kann sich fast gar nicht
mehr bewegen. Und da — da —“
Er spielte ängstlich mit den Rockknöpfen
und sah zuerst seitwärts. Dann aber blickte
er schnell in das Antlitz des Cellisten, als
wollte er sich Mut zu seiner Bitte holen. Der
aber fragte:
„Soll ich in Ihre V/ohnung spielen kommen?“
Da kam ein La-
chen und Stammeln
und Schluchzen von
denLippen desNach-
barn, und er
schwenkte die Arme
vor und die Tränen
stürzten ihm aus den
Augen. Der Cellist
aber war schon in
seinem Zimmer ver-
schwunden und
kehrte gleich wieder
zurück, das Instru-
ment in der einen,
den Bogen in der
anderen Hand, und
sagte nur „So : . . .“
V/ieder wollte
der Nachbar etwas
zum Dank sagen
und es fielen ihm
auch Worte von
den Lippen, aber


Walter Teutsch / Kain und Abel (nacb einem Holzschnitt)
 
Annotationen