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„Der Winter", fuhr ich fort, „scheint im
Ernst zu beginnen."
Obgleich die Ecke, in der er saß, so düster
war, dal? ich seine Züge nicht sehr klar er-
kennen konnte, sah ich, dal? seine Augen voll
auf mich gerichtet waren. Und doch ant-
wortete er kein einziges Wort.
Zu jeder anderen Zeit hätte ich einigen Ärger
empfunden und vielleicht geäußert, aber im
Augenblick war ich zu unwohl, um es zu tun.
Die eisige Kälte der Nachtluft und der sonder-
bare Geruch in dem Wagen verursachten mir
eine unerträgliche Übelkeit. Ich schauderte
und, mich zu meinem Nachbar links wendend,
fragte ich ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn
ich ein Fenster öffnete.
Er antwortete weder, noch rührte er sich.
Ich wiederholte die Frage etwas lauter, aber
mit dem gleichen Erfolg. Dann verlor ich die
Geduld und ließ das Fenster hinab. Als ich
das tat, zerriß der Lederriemen in meiner
Hand, und ich beobachtete, daß das Glas mit
einer dicken Schimmelschichte bedeckt war.
Da so der Zustand der Kutsche meine Auf-
merksamkeit erregte, beobachtete ich ihn ge-
nauer und sah hei dem ungewissen Licht der
außen scheinenden Lampen, daß sie im letzten
Stadium des Verfalls war. Alles war nicht
nur reparaturbedürftig, sondern in Verwesung.
Die Lederpolster waren mit einer Kruste be-
deckt und faulten buchstäblich von dem Holz-
werk ab. Der Fußboden zerbrach fast unter
meinen Füßen. Kurz, die ganze Maschine war
offenbar aus irgendeiner Remise geholt worden,
in der sie viele Jahre verkommen war, um noch
einen oder den anderen Tag auf der Landstraße
Dienst zu tun. Ich wandte mich an den dritten
Passagier, den ich noch
nicht angesprochen hatte,
und wagte noch eine Be-
merkung.
„Diese Kutsche", sagte
ich, „ist in einem kläglichen
Zustand. Der gewöhnliche
Postwagen ist wohl in
Reparatur ?“
Er wandte langsam sein
Haupt und sah mir ins
Gesicht, ohne ein Wort zu
sprechen. Ich werde den
Blick nicht vergessen, so

lange ich lebe. Mein Herz wurde unter ihm
kalt. Seine Augen glühten in einem unnatür-
lichen Feuerglanz. Sein Gesicht war fahl wie
das Gesicht einer Leiche. Seine blutleeren
Lippen waren wie in der Agonie des Todes
zurückgezogen, und es wurden zwischen ihnen
die schimmernden Zähne sichtbar.
Die Worte, die ich aussprechen wollte, er-
starben auf meinen Lippen und ein seltsamer
Schauer — ein fürchterlicher Schauder — über-
kam mich. Ich kehrte mich meinem Nachbarn
gegenüber zu. Auch er blickte mich an, mit
der gleichen erschreckenden Blässe in seinem
Gesicht und dem gleichen steinernen Glitzern
in seinen Augen. Ich strich mit der Hand über
meine Stirn. Ich wandte mich zu dem Passagier
auf dem Sitz neben mir und ich sah —
o Himmel! wie soll ich beschreiben, was ich
sah? Ich sah, daß er kein lebender Mensch
war — daßkeinervon ihnen ein lebender Mensch
war, wie ich! Ein blasses phosphoreszierendes
Licht — das Licht der Verwesung — spielte
auf ihren schrecklichen Gesichtern; auf ihrem
Haar, das der Schimmel des Grabes bedeckte;
auf ihren Kleidern, die mit Erde beschmutzt
waren und in Stücke fielen; auf ihren Händen,
die die Hände längst begrabener Leichname
waren. Nur die Augen, ihre schrecklichen
Augen lebten; und sie waren drohend auf mich
gerichtet!
Ein Schrei des Entsetzens, ein wilder unver-
ständlicher Schrei nach Hilfe und Gnade brach
von meinen Lippen, während ich mich gegen
die Türe warf und sie vergeblich zu öffnen
strebte.
In diesem einzigen Augenblick sah ich hell
und lebendig wie eine Landschaft, die man in
einem sommerlichen Blitz
erschaut, den Mond, der
durch einen Zug stürmen-
der Wolken schien — den
gespenstischen Wegweiser,
der seinen warnenden Fin-
ger am Wegesrand erhob
— die zerbrochene Brü-
stung — die stürzenden
Pferde — den schwarzen
Abgrund darunter. Dann
schwankte die Postkutsche
wie ein Schiff zur See.
Dann kam ein mächtiger


Honore Daumier / Mensch und Teufel
 
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