Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

DOI Heft:
Drittes Heft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0075
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Bei der Liebe Gottes, Montresor!“
„Ja,“ antwortete ich „bei der Liebe Gottes.“
Vergebens lauschte ich auf Antwort. Ich
wurde ungeduldig und rief: „Fortunato!“ . . . .
Keine Antwort. Und wieder rief ich: „Fortu-
nato !“.
Nichts. Ich hielt eine Fackel durch den
schmalen Spalt der Mauer und lief? sie fallen.
Nur das Erklingen der Schellen antwortete.

Übelkeit überkam mich — wohl wegen der
Feuchtigkeit der Gruft.
Ich beeilte mich, mein Werk zu vollenden,
brachte den letzten Stein in die richtige Lage
und verstrich die Fugen. Vor das neue Mauer-
werk türmte ich den alten Knochenhaufen.
Den hat seit einem halben Jahrhundert nie-
mand mehr in seiner Ruhe gestört.
Requiescat in pace!


DAS GEHIRN
Von Hans Meixner

LETZTEN Sonntag sal? ich mit meinem
J Geschäftsfreund im Cafe des Städtchens.
Der Raum war fast menschenleer. Nur in der
uns gegenüberliegenden Ecke fiel mir ein ein-
samer Gast auf. Er hielt eine Zeitung vor sich
hin. Man sah aber, dal? er nicht las, sondern
ins W'eite stierte. Ein dünner Faden Speichel
zog träge aus seinem Munde auf das Knie seines
Beinkleides. Die achtlos hingelegte Zigarre
gloste schief auf der Marmorplatte des Tisches.
Das erregte meine Aufmerksamkeit.
„Den Herrn da drüben mul? ich doch ken-
nen?“ fragte ich meinen Freund. „Das ist doch
Dr.B aumann, nicht?“
„GewiJ?. Es wundert mich nur, dal? du ihn
erkannt hast.“
„Der Mann scheint doch halb irrsinnig“,
bemerkte ich.
„Ist er auch.“
„Aber ich kenne ihn doch als einen frischen,
gesunden Menschen. Bei meinem letzten Auf-
enthalt hier, vor einigen Wochen —“

„Ganz richtig,“ sagte mein Freund, „noch
vor einigen Wochen war er der geistreichste,
liebenswürdigste, lebensfroheste Mann.“
„Und diese Veränderung?“
„Mein Gott, ein Zufall, wie er sich so oft
im Leben ereignet. Gibt es ein Gesetz für den
fallenden Ziegelstein, der einen Vorbeigehenden
erschlägt? Wer kennt genau die Ursachen, die
einen Schnellzug in rasender Fahrt mit sovielen
Passagieren ins andere Leben befördern? —
Wäre Dr. Baumann nach dem Unglücksfall
nicht noch einige Stunden bei klarem Geiste
gewesen, kein Mensch hätte wahrscheinlich
den Zusammenhang erkennen können.“
„So erzähle mir doch“, bat ich meinen Freund.
„Gern. — Du weil?t doch, dal? sich hier vor
kurzem ein Mörder umhertrieb. Er überfiel
schwangere Frauen, ohne sie zu berauben. Die
Opfer fand man erdrosselt vor. Auch kein
Sittlichkeitsdelikt kam in Betracht. Die reine
Lust am Mord. Übrigens spielt dieser Mörder
— wenn man kalt urteilt — nur eine neben-
 
Annotationen