Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

DOI Heft:
Drittes Heft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0078
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
VERWUNSCHNE STUNDE
Von Alexander FreiK. v. Bernus

Wie sich zur Nacht die Sinne schärfen.
So überwachst uns all der Wald,
Und Schatten, die die Erlen werfen
Am Bach, beleben sich nun bald.

Im Sumpfe und verschilften Teiche
Erwacht ein surrendes Gesumm,
Und in den Binsen geht das bleiche
Gespensterhafte Fieber um.

Es bilden sich aus Nebelstreifen
Gesichter und verwehn im W’ind,
Und unsichtbare Hände greifen
Nach Lichtern, die erloschen sind.

DIE ERNTE
Von A. M. Frey
mit drei Holzschnitten von Otto Nückel

JEMAND hat leise gerufen. Hat nicht eben
jemand meinen N amen gesagt und den Dienst-
grad dazu, den ich im Felde gehabt habe ?
Weshalb bin ich aufgewacht? Es ist mitten
in der Nacht und drei Minuten nach drei.
Oder hat die Klingel angeschlagen, ganz dünn
und zirpend nur? Ich will aufstehen und
nachschauen.
Der Gang in meiner W'ohnung ist matt er-
leuchtet, also brennt das Licht im Treppen-
hause, von dem aus ein Schein hereinfällt. Soll
ich den Drücker für die Haustür in Bewegung
setzen? Es ist nicht nötig, denn schon höre ich
jemand die Steintreppen aufwärtstappen. Ich
spähe durchs Guckloch und sehe vorerst nichts
als einen Teil des breiten, runden Treppen-
hauses, das sich als ungeheure Wendeltreppe
emporschraubt in diesem turmartigen Gebäude
von sieben Stockwerken.
Mit den stapfenden Tritten im gleichen
Takt geht keuchender Atem, widerhallend —
auch der Atem — in dieser steinernen Riesen-
röhre. Ein Mensch kommt an meinem Späh-
loch vorüber — ein Mann; er geht gebückt
und trägt eine schwere Last über Schulter und
Rücken.Vorbei. Ich habe seine Augen
nicht sehen können, aber er mag von meiner

Statur sein, und er hat blondes Haar wie ich.
Da kommt er noch einmal in meinen Gesichts-
kreis — entfernter und höher — aufwärts in
der Schraubung der Wendeltreppe. Ich erfasse
das Bild ganz und ich sehe, dal? er einen
menschlichen Körper über Schulter und Rücken
geworfen trägt. Vorbei.
Wras ist das? W'ird hier ein Lebloser ins
Haus geschafft? Wras bedeutet das? V?ird ein
Toter verschleppt? W'enn irgendwo ein Ver-
brechen begangen wurde — seit wann trägt
man das Opfer in menschliche Wohnungen?
Man schafft es doch fort — fort aus dem Hause
der Untat, — fort aus jedem Umkreis von
Häusern, hinein in ein saugendes W'asser, in
einen modrigen Kanalschacht, in eine Dung-
grube, allenfalls in einen Keller, — — aber
treppenaufwärts ?
Haben wir im Felde Leichen treppaufwärts
getragen? Lächerlicher Gedanke. Wir waren
soviel mit Toten beisammen, aber das ist nie
vorgekommen. Loch an Loch haben wir mit
ihnen gehaust; die Ratten waren die Dritten
im Bunde, und sie haben — wie oft — den
Toten die Augen ausgefressen.
Weshalb mul? ich daran denken ? Einmal
haben wir eine grol?e Truhe zur Hand gehabt

8
 
Annotationen