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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

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Drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0084
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Lebendiges vermutete. War ich nicht berechtigt
war ich nicht verpflichtet, solches zu tun?
Alle schweigen.
Weil ich hilflos umherblicke, fällt mir der
Papageienkäfig in die Augen. Ein schwärzliches
Geschiebe wogt hin und her in ihm, und ich
erkenne, dal? er angefüllt ist mit einem Knäuel von
Ratten. Sie leben — und die Menschen sind tot.
Euch will ich den Garaus machen, be-
schließe ich.
Viel schöne Tiere! flüstert zärtlich eines der
toten Kinder, das sich nicht ängstigen gelernt
hat vor irgendwelchem Getier.
Recht! Sind sie nicht auch Geschöpfe des
Ewigen? frage ich mich. Wer hat sie zu dem
verhaßten Geschmeiß gemacht, als das sie ver-
schrien sind? Ich will sie frei lassen, sie
werden Hunger haben.
Und ich öffne die Käfigtüre; sie huschen
hinaus und hinweg in die Dunkelheiten des
großen Speichers. Sie werden später zurück-
kehren und an dem sich sättigen, was hier am
Boden liegt und schweigt.
*
Dieses atemlose Schweigen drosseltmichund,
erneut auf innere Rettung bedacht, schreie ich:
War ich nicht berechtigt, solches zu tun? Man
hat doch auch auf mich geschossen!
*
Ich habe auf niemanden geschossen, haucht
die Französin. — — — — — — — — — — —

Oh, mein Gott, ich weiß, sie will sagen:
und liege doch hier.
Und ich falle auf die Knie. Reue schlägt
über mir zusammen, und ich schluchze: Du
hast recht, Frau, und auch ihr, Kameraden, habt
recht mit euren Zweifeln. Ich hätte nicht töten
dürfen. Ich nicht! Mir selbst habe ich ruchlos
das Wort gebrochen, ich habe mich ver-
gewaltigt, ich bin ein Verbrecher. Der ich be-
gnadet war zu erkennen, was gut und mensch-
lich ist — ich habe die Gnade verraten an die
Gewalt. Die Gewalt hätte mich ausgelöscht —
vielleicht. Als Feigling wäre mir unrühmlicher
Tod widerfahren. Aber ich Feigling hätte
denen Mut gemacht, die auf meinem Wege
gewesen sind. Und wenn hundert sich ge-
weigert hätten zu töten, gleich mir, hätten sich
auch tausend geweigert. Und wenn tausend
widerstanden wären, wären zehntausend
ihnen gefolgt. Und die Welt wäre weniger
durchtränkt mit Blut, und der gute Same wäre
gesät in aller Welt — und was hier um meine
verruchten Knie verwest, hätte nicht uner-
bittlich die letzte Fahrt zu mir gemacht.
*
Die Worte versagen mir. Ich weiß nichts
mehr — nichts mehr unter dem groß auf-
geschlagenen Auge des Todes, das mit keiner
Wimper zuckt, während es mich immerfort
ansieht — solange, bis mein eigener Blick blind
wird und grenzenlose Nacht mich überspült
und hinwegrafft.



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