Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

DOI Heft:
Drittes Heft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0087
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
tausend Jahre verschoben worden. Man sollte
sich nur nicht so beeilen, auf die Erde zurück-
zukommen; Nirwana wäre die Ruhe, da unten
aber wär's fürchterlich . . . (Schiller, der dabei
war, hat sich sehr über das Zitat gefreut.) Dem
Beschlüsse des G.-R. gemäß wurde dem „Ge-
wissen"’ die Notwendigkeit der Entsendung
einer Deputation des G.-R. auf die Erde klar-
gemacht. Er war einverstanden.
25. Oktober.
Die Abgesandten sind gewählt: Schiller,
Beethoven, Marx, Moses (aus dem alten Testa-
ment), Shakespeare, Napoleon I., Mark Twain
und Robespierre. Man sieht — die verschie-
densten Leute. — Sie sollen morgen abreisen
und nach einer Woche zurückkehren. Sie
werden uns ausführlichen und genauen Bericht
von den Erdenzuständen geben. Vielleicht ist
alles nur halb so schlimm. Ist letzteres der
Fall, dann wird der G.-R. beim „Gewissen“
die Festsetzung eines baldigen Rückkehrtermins
durchsetzen. — Mark Twain freut sich un-
bändig. Schopenhauer meint, das Lachen würde
ihm schon vergehen.
26. Oktober.
Sie sind fort. Moses hat vor der Ab-
reise bei einer erstklassigen Grabsteinfirma
auf telepathischem Wege ein Dutzend Gesetz-
tafeln bestellt. — Der „Gewisse“ ist in
Zorn und es regnet den ganzen Tag.
26. Oktober, abends.
Marx zurück. Schlag-
anfall beim Anblick der
Erde. Seine letzten Worte waren :
„Alles verdreht . . .“
29. Oktober.
Spartakus ist empört. Er ist
mit der Vervielfältigung eines Ein-
gesandt an alle Redaktionen
der Erdblätter beschäftigt, in
dem er festgestellt wissen will,
dal? sein Name von der neuer-
dings entstandenen Bewegung ganz
willkürlich und Zusammenhang -
los gewählt worden sei. Er hätte
die Sklaven zur Freiheit geführt,
während da unten auf der Erde
soeben das Gegenteil geschähe.

28. Dezember.
Ich bin so niedergeschlagen, dal? ich eigentlich
meine Aufzeichnungen ganz einstellen wollte...
Sie sind zurück . . . Der Geisterrat hat sich in
seine Bestandteile aufgelöst... Der „Gewisse“
ist gebeten worden, den Termin der Rückkehr
auf zehn- bis zwanzigtausend Jahre hinaus-
zuschieben .Moses hat in seinem un-
geheuren Grimm über die Erdenkinder das
ganze Dutzend Marmortafeln an den Köpfen
einiger Spartakisten zerschlagen. Er ist jetzt
noch aul?er sich. — Shakespeare ist gleichfalls
wie niedergeschmettert und behauptet nach wie
vor, es gäbe Dinge, von denen sich unsere Schul-
weisheit nichts träumen liel?e. Als Mark
Twain gewohnheitsgemäl? seinen ersten V/itz
machen wollte, überfiel ihn das Grauen und er
bekam einen Weinkrampf. Noch jetzt stehen
ihm die Tränen in den Augenwinkeln. — Na-
poleon, der, zwei Finger zwischen den Westen-
knöpfen in der Bauchgegend, einige sachliche
Bemerkungen über die Strategie des XX. Jahr-
hunderts machen wollte, fiel in einen Trichter,
den ein 42-cm-Geschol?gebohrthatteund ward
nicht mehr gesehen. — Robespierre hat sofort
Anschluß gefunden. Er hat die besten Aus-
sichten, Führer der Spartakisten zu werden. -
Schiller und Beethoven haben wegen schwerer
Sachbeschädigungen und einem Dutzend Ehren-
beleidigungen zwei Wochen Arrest abzubüßen.
Es wurde nämlich ihnen zu Ehren
die Filmoper „Die Jungfrau von
Orleans“ (Kolossaldrama in 22
Akten, Text von Friedrich Schiller,
verfilmt von der „Schiller-Film-
A.-G.“, für das Grammophon ver-
opert von der „Beethoven-A.-G.“)
gegeben. Sie vollbrachten Unbe-
schreibliches. Schiller bearbeitete
die Menge mit Verbalinjurien, Beet-
hoven den Apparat mit seinem ge-
schichtlich bekannten Krückstock.
— Man wird verstehen, daß wir
nicht die geringste Lust verspüren,
zur Erde zurückzukehren . . .
10. Januar.
Schopenhauer meint, er habe es ja
gleich gesagt. Aber ich halte nicht
viel von diesem Ausspruch, denn
das sagen die Philosophen immer.


17
 
Annotationen