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wesen, erfaßte mich ein
derartiger Schrecken, daß
ich in Ohnmacht fiel.
Als ich das Bewußt-
sein wieder erlangte, war
ich in meinem Bette; Ar-
rigo Cohic und Pedrino
Borgnioli standen zu
meinen Häupten. Sobald
ich die Augen geöffnet
hatte, rief Arrigo aus:
„Oh! das ist nicht
schade! Jetzt ist es bald
eine Stunde, daß ich
deine Schläfen mit Köl-
nisch Wasser einreibe.
Was, zum Teufel, hast
du heute Nacht getan?
Frühmorgens, als ich
dich nicht herunterkommen sah, hin ich in dein
Zimmer getreten und habe dich lang auf dem
Boden hingestreekt gefunden, im Frack mit
Stehkragen, in den Armen ein Stück zer-
brochenes Porzellan halten, wie wenn es ein
junges hübsches Mädchen gewesen wäre/'’
„Bei Gott! das ist das Hochzeitsgewand
meines Großvaters'", sagte der andere und lüf-
tete einen der Rockschöße aus tiefroter Seide
mit eingewirktem Laubgrün. „Hier die Knöpfe
aus unechten Diamanten und Filigran, die er
uns so sehr rühmte. Theodore hat es wohl in
einem Winkel gefunden und zum Vergnügen
angezogen. Aber aus welchem Anlaß ist dir
unwohl geworden?" fügte Borgmoli hinzu.
„Das schickt sich für eine kleine Modedame,
die weiße Schultern hat; man schnürt sie auf,
man löst ihre Halsbänder, ihre Schärpe los,
und das ist eine gute Gelegenheit
für allerlei Zierereien."
„Es war nur eine Schwäche, d e
mich erfaßt hat; ich unterliege dem
oft“, entgegnere ich trocken.
Ich stand auf und entledigte mich
meiner lächerlichen Verkleidung.
Und dann wurde gefrüh stückt.
Meine drei Kameraden aßen viel
und tranken noch mehr; ich aß fast

gar nicht, die Erinnerung
an das Vorgefallene ver-
ursachte mir seltsame
Zerstreuungen.
Da es in Strömen
regnete, war es nach
dem Frühstück nicht
möglich auszugehen;jeder
beschäftigte sich so gut
er konnte. Borgnioli
trommelte kriegerische
Märsche auf den Fenster-
scheiben, Arrigo und der
Hausherr spielten eine
Partie Dame; ich entnahm
meinem Album einen
Bogen Velinpapier und
begann zu zeichnen.
Die fast unmerkliehen
Linien, die mein Bleistift zog, ohne daß ich im
mindesten daran gedacht hätte, ergaben mit
der wunderbarsten Genauigkeit das Abbild
der Kaffeekanne, die eine so wichtige Rolle
in den Szenen dieser Nacht gespielt hatte.
„Es ist erstaunlich, wie dieser Kopf meiner
Schwester Angela ähnlich sieht“, sagte der
Hausherr, weicher nach Beendigung seiner
Partie mir hei meiner Arbeit über die Schulter
hinweg zuschaute.
In der Tat, was mir soeben eine Kaffeekanne
geschienen hatte, war m Wirklichkeit das süße
melancholische Profil Angelas.
„Bei allen Heiligen des Paradieses, ist sie tot
oder lebt sie?“ rief ich mit bebender Stimme,
ais hinge mein Lehen von seiner Antwort ah.
„Sie ist vor zwei Jahren nach einem Bade
an einem Lungenschlag gestorben.“
„Ach!“ erwiderte ich schmerzlich.
Und indem ich eine Träne, die im
Begriff war mir zu entgleiten, unter-
drückte, legte ich das Papier in das
Album zurück.
*
Ich hatte begriffen, daß es für
mich kein Glück mehr gab auf
dieser Erde.



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