DIE HAND DES MAJORS MÜLLER
Von Paul Verlaine, übersetzt von Nelly Miscbkönig (mit zwei Zeichnungen von Otto Linnekogel)
O, dieser Hans mit seinen Theorien!“
Diese Worte wurden in vielstim-
migem Chorus von zehn oder fünfzehn bemoos-
ten Häuptern ausgerufen; die Tonpfeife im
Munde, vor sich ungeheuere Krüge mit Bock-
bier, saßen sie um den Eichentisch der Kneipe.
Der auf diese Weise herausgeforderte Stu-
dent war ein großer, jungerMensch mit starkem
Bart und üppigem Haar, das unter dem un-
vermeidlichen Samtkäppchen hervordrang; er
trug einen Reitrock
Brandenburger Art, le-
derne Beinkleider und
hohe Stiefel ä la Su-
waroff; doch sein blas-
ses Gesicht und seine
ganze Figur, schlanker
als man es in dieserVer-
sammlung zukünftiger,
meist etwaswohlbeleib-
ter Ärzte gewöhnt war,
ließ auf Geist, vielleicht
sogar auf einen höheren
Menschen schließen.
„Lachen Sie nicht,
meine Herren,“ sagte er,
„ich will Ihnen, auf
Grund meiner Theorie,
welche, ich bestehe dar-
auf, die Behauptung
einer Zusammengehörigkeit des Körpers mit
seinen Gliedern, selbst nach gewaltsamer Ab-
trennung, ist, eine kleine Geschichte erzählen.'
,VVir hören! Bemühe Dich, amüsant zu sein,“
schrieen die skeptischen Kameraden aus vollem
Halse, worauf Hans mit ernster Stimme begann:
„Ich verkehrte viel mit Major Müller, welcher,
wie Ihr wißt, seinerzeit der beste Spieler unserer
Garnison war. Ich kannte ihn von meiner frühe-
sten Kindheit an. Er war ein alter Freund
meiner Familie, und wenn er zu uns kam, ver-
fehlte er es nie, mir einen Haufen von Näsche-
reien mitzubringen. Als ich größer wurde,
brachte er mir alle Arten von Büchern; haupt-
sächlich waren es Romane und militärische
Werke, die er mir gab. ,Ich möchte, daß du
eines Tages Feldmarschall wirst’, sagte er mir
oft und zupfte mich am Ohr; später, als ich ein
junger Mann wurde, schenkte er mir Waffen.
Ich hatte eine Art liebevoller Hochachtung
für ihn, die mir erlaubte, kaum daß ich begann,
kein vollständiger Grünschnabel mehr zu sein,
eine innige Freundschaft mit ihm einzugehen;
er war ein wirklich scharmanter Mensch.
Nebenbei war er sehr ausschweifend, liebte
Frauen, Spiel und Trunk, doch Spiel und
Trunk mehr noch als die Frauen.“
„Vielleicht nicht ohne
Grund,“ bemerkte der
dicke Fritz. Hans fuhr
fort: „Er hatte gerade
eines Streites beim Spiel
und nicht einer Dame
wegen, wie einige Au-
ßenstehende behaupte-
ten, ein Säbelduell, wel-
ches heute noch berühmt
ist, und in dem er seinen
Gegner tötete; doch er
selbst trug eine so un-
glückliche Verletzung
am Handgelenk davon,
daß man sich, trotzdem
die Symptome anfäng-
lich nicht im mindesten
beunruhigend waren,
genötigt sah, die rechte
Hand abzunehmen. Der Major hatte die merk-
würdigeLaune, sich von diesem Organ, welches
bei ihm von großer Schönheit war, nicht tren-
nen zu wollen. Zu diesem Zwecke ließ er die
Hand mit kostbaren Wohlgerüchen tränken,
ihr starken Balsam einspritzen und bewahrte
sie unter einer Kristallglocke in seinem Schlaf-
zimmer auf.
„Haha, das ist ein guter Witz!“
„Fritz, wirst du endlich den Mund halten!'
„Ich sehe sie noch, diese trockene, haarige
Hand des alten Militärs, ich sehe sie im Geiste
wieder, diese gleichsam in Fieberverkrallung
verkrampften Finger eines ausschweifenden
Spielers, die nun auf dem roten und grünen
Samt eines mit goldenen Eicheln geschmückten
Kissens ausruhten. Das Fleisch, wenn man
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Von Paul Verlaine, übersetzt von Nelly Miscbkönig (mit zwei Zeichnungen von Otto Linnekogel)
O, dieser Hans mit seinen Theorien!“
Diese Worte wurden in vielstim-
migem Chorus von zehn oder fünfzehn bemoos-
ten Häuptern ausgerufen; die Tonpfeife im
Munde, vor sich ungeheuere Krüge mit Bock-
bier, saßen sie um den Eichentisch der Kneipe.
Der auf diese Weise herausgeforderte Stu-
dent war ein großer, jungerMensch mit starkem
Bart und üppigem Haar, das unter dem un-
vermeidlichen Samtkäppchen hervordrang; er
trug einen Reitrock
Brandenburger Art, le-
derne Beinkleider und
hohe Stiefel ä la Su-
waroff; doch sein blas-
ses Gesicht und seine
ganze Figur, schlanker
als man es in dieserVer-
sammlung zukünftiger,
meist etwaswohlbeleib-
ter Ärzte gewöhnt war,
ließ auf Geist, vielleicht
sogar auf einen höheren
Menschen schließen.
„Lachen Sie nicht,
meine Herren,“ sagte er,
„ich will Ihnen, auf
Grund meiner Theorie,
welche, ich bestehe dar-
auf, die Behauptung
einer Zusammengehörigkeit des Körpers mit
seinen Gliedern, selbst nach gewaltsamer Ab-
trennung, ist, eine kleine Geschichte erzählen.'
,VVir hören! Bemühe Dich, amüsant zu sein,“
schrieen die skeptischen Kameraden aus vollem
Halse, worauf Hans mit ernster Stimme begann:
„Ich verkehrte viel mit Major Müller, welcher,
wie Ihr wißt, seinerzeit der beste Spieler unserer
Garnison war. Ich kannte ihn von meiner frühe-
sten Kindheit an. Er war ein alter Freund
meiner Familie, und wenn er zu uns kam, ver-
fehlte er es nie, mir einen Haufen von Näsche-
reien mitzubringen. Als ich größer wurde,
brachte er mir alle Arten von Büchern; haupt-
sächlich waren es Romane und militärische
Werke, die er mir gab. ,Ich möchte, daß du
eines Tages Feldmarschall wirst’, sagte er mir
oft und zupfte mich am Ohr; später, als ich ein
junger Mann wurde, schenkte er mir Waffen.
Ich hatte eine Art liebevoller Hochachtung
für ihn, die mir erlaubte, kaum daß ich begann,
kein vollständiger Grünschnabel mehr zu sein,
eine innige Freundschaft mit ihm einzugehen;
er war ein wirklich scharmanter Mensch.
Nebenbei war er sehr ausschweifend, liebte
Frauen, Spiel und Trunk, doch Spiel und
Trunk mehr noch als die Frauen.“
„Vielleicht nicht ohne
Grund,“ bemerkte der
dicke Fritz. Hans fuhr
fort: „Er hatte gerade
eines Streites beim Spiel
und nicht einer Dame
wegen, wie einige Au-
ßenstehende behaupte-
ten, ein Säbelduell, wel-
ches heute noch berühmt
ist, und in dem er seinen
Gegner tötete; doch er
selbst trug eine so un-
glückliche Verletzung
am Handgelenk davon,
daß man sich, trotzdem
die Symptome anfäng-
lich nicht im mindesten
beunruhigend waren,
genötigt sah, die rechte
Hand abzunehmen. Der Major hatte die merk-
würdigeLaune, sich von diesem Organ, welches
bei ihm von großer Schönheit war, nicht tren-
nen zu wollen. Zu diesem Zwecke ließ er die
Hand mit kostbaren Wohlgerüchen tränken,
ihr starken Balsam einspritzen und bewahrte
sie unter einer Kristallglocke in seinem Schlaf-
zimmer auf.
„Haha, das ist ein guter Witz!“
„Fritz, wirst du endlich den Mund halten!'
„Ich sehe sie noch, diese trockene, haarige
Hand des alten Militärs, ich sehe sie im Geiste
wieder, diese gleichsam in Fieberverkrallung
verkrampften Finger eines ausschweifenden
Spielers, die nun auf dem roten und grünen
Samt eines mit goldenen Eicheln geschmückten
Kissens ausruhten. Das Fleisch, wenn man
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