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DIE LODERNDE FLAMME

Von Karl und Joseph Capek
übertragen von Otto Pick (mit zwei Zeichnungen von Otto Linnekogel)

IN einer Hafenstadt des Südens verbrachte
ein gewisser Manoel M. L. die Mehrzahl
seiner Jugendjahre. Es hatte den Anschein, dal?
ihm zu seiner Zufriedenheit nichts versagt war.
er erfreute sich all dessen, was sein jugendliches
Alter und die Vaterstadt ihm gewährten, stand
in Ansehen hei den
Menschen, in Liebe
bei den Frauen wie
bei seinen Freunden,
und so ward er von
allen, die ihn kann-
ten, ein glücklicher
Mensch genannt. Er
selber aber fühlte
manchmal, dal? sein
Leben irgendwie un-
zulänglich und sein
Glück nur scheinbar
sei, so dal? er zeit-
weise etwas wie
Langweile darüber
empfand oder eine
Bedrückung, die
seine Gedanken mit
Melancholie be-
klemmte. Vielleicht
war dies Unzufrie-
denheit darüber, dal? er so lebte, wie es
der Fall war, und nicht so, wie er es gar
nicht auszudenken vermochte; oder es war des-
halb, weil er in einer Hafenstadt lebte, wo die
Menschen den goldnen Staub ferner Länder
mit der Luft einatmen,wo sie täglich das blaue*
Sehnsucht nach weiten Fernen erweckende
Meer schauen, und wo sie sich jederzeit mit
einem einzigen Schritte von allem losreil?en
und abreisen können, wohin es ihnen beliebt.
Aber vielleicht ward sich Manoel all dessen
nicht einmal bewul?t, sondern fühlte nur eine
geheime Unruhe und unklare Sehnsucht und
wul?te nicht, woher sie kam und wie er sie
stillen könnte.
Und so ging er eines Abends durch die Stral?en
der Vaterstadt spazieren. Es war schon finster,

und Manoel schritt allein und ohne Ziel, bis
er den Hafen erreichte, wo er am Wasser
stehen blieb.
Das Wasser plätscherte leise und vom Meere
wehte eine kühle Brise herüber. Grol?e segel-
lose Schiffe schaukelten und rieben sich mit
den hölzernen Flan-
ken geräuschvoll an-
einander. In der
Mitte befand sich
das größte von allen
Schiffen und rings-
herum tanzten Boote
mit brennenden
Lichtern auf dem
Wasser. „Wenn ich
nach Indien reiste“,
fiel es Manoel plötz-
lich ein; so stand er
und blickte auf das
Wasser und die
schwarzen Schiffe
hinab. „W^enn ich
nach Indien reiste“,
wiederholte er. Da
traten zwei Männer
an ihn heran, der
eine seltsam dick
und der andere ein Schwarzer. „Herr,
sprach jener Dicke, „saht Ihr jemals eine
Schwalbe oder Reiher, die so weit geflogen
wären, wie der Mensch mit Gottes Hilfe segeln
kann? Die Welt, Herr, ist aus Fernen und
Richtungen zusammengesetzt. Dein V^eib, dein
Nachbar und dein Haus verdrießen dich, dein
Glück enttäuscht dich und dein Leben gelingt
nicht; aber in fremden Ländern hat der Mensch
weder Weib, noch Nachbarn, noch Haus; in
fernen Ländern wohnst du zwischen den vier
Weltrichtungen, und jede Richtung liegt vor
dir wie eine Landstraße, wartend, daß du sie
beschreitest. So tritt denn hervor aus deinem
Gefängnis, Menschenskind, spring aus dem
Kerker hinaus und schließe das Tor hinter dir;
da wirst du erkennen und lobpreisen, welch


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