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„O, es geht noch viel weiter,“ rief jemand
dazwischen, „ich kenne einen, der ein Lied
davon zu singen weil?. Dem armen Kerl hat’s
Nase und Ohren gekostet und er ist jetzt jäm-
merlich entstellt.“
Aller Augen richteten sich bei diesen Wor-
ten nach einem Gast, der in einer Ecke des
Saales ganz allein gelagert war. Als dieser
Mann nun äußerst beschämt und böse aufsprang
und die Gesellschaft verlassen wollte, redete
ihm Byrrhäna zu: „Nicht doch, lieber The-
lyphron, du wirst doch nicht fortgehen wollen?
Erzähle uns lieber nochmals deine Geschichte,
damit Vetter Lucius sie auch kennen lerne.“
Thelyphron lief? sich indessen nur schwer
besänftigen, schließlich aber begann er doch:
„Als junger Mensch kam ich einst nach La-
rissa. Da mein Geldbeutel recht mager ge-
worden war, suchte ich nach irgendeiner Ver-
dienstmöglichkeit, und als ich nun so herum-
irrte, vernahm ich die laut rufende Stimme eines
Mannes: AVer Lust hat, einen Toten zu be-
wachen, melde sich und fordere, was er will!'
Ja, haben die Toten denn hierzulande die
Angewohnheit, davonzulaufen?1 sagte ich zu
einem Vorübergehenden.
,Spotte nicht/ antwortete dieser, ,du scheinst
nicht zu wissen, daß es hier mitten in Thes-
salien gar nichts Seltenes ist, daß alte Hexen
den Verstorbenen das Gesicht abfressen und
dann allerlei Zaubermittel damit herstellen.'
,Und worin besteht nun die Totenwacht?'
,In erster Linie', erwiderte er, ,darf man die
ganze Nacht über keinen Blick von dem Leich-

nam lassen, ein kleiner Seitenblick nur, und so-
fort hat sich so ein Geistchen herangeschlichen.
Die wissen nämlich die Gestalten aller mög-
lichen Tiere anzunehmen, bald erscheinen sie
als Hunde, bald als Vögel, dann wieder als
Mäuse, ja schließlich gar als Fliegen. Auch
schläfern sie gerne die Wächter durch gewisse
Beschwörungsworte ein. Der W'achter aber,
der am andern Morgen die ihm anvertraute
Leiche nicht unversehrt abliefern kann, muß
sich aus seinem eigenen Gesichte alles heraus-
schneiden lassen, was dem Toten über Nacht
abgehissen wurde.'
Als ich all das vernommen hatte, trat ich an
den Ausrufer heran: ,Ich will der W^ächter
sein! Wrieviel willst du mir geben?'
,Tausend Sesterzien', antwortete er, ,werden
für dich als Belohnung deponiert. Du mußt
die Leiche aber auf das allersorgfältigste be-
wachen; es ist der Sohn eines der Vornehmsten
dieser Stadt.'
Als wir nun zum Trauerhause kamen, führte
er mich in ein düsteres Zimmer mit verhangenen
Fenstern; dort saß eine Dame in Trauer und
weinte.
Mein Führer trat zu ihr und sagte: ,Hier
bringe ich dir einen Mann, der gelobt hat, deinen
Gemahl sorgsam zu bewachen.'
Die Dame strich die Haare zurück, die von
beiden Seiten über ein Gesicht hingen, das
selbst in der tiefen Betrübnis berückend schön
war, sah mich an und sprach: ,0 lieber Freund,
tu es ja mit aller Aufmerksamkeit.' Dann
brachte sie mich in ein anderes Zimmer, und

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