Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Ein etwa fünfzigjähriger Mann in grober Hand-
werkertracht hieß mich willkommen. Doch
die Aussprache verriet mir sofort, dal? er blol?
verkleidet wäre.
Ich sagte ihm alles, auch dal? ihn Marceau
als Sekretär mitzunehmen beabsichtige. Doch
machte er Schwierigkeiten, ohne seine Tochter
zu reisen. Erst als ich ihm die Unmöglichkeit
vorgestellt, dal? er gleichzeitig mit ihr ahreise,
weil er sich und sie unnütz gefährde, gab er nach.
Ich versprach ihm noch. Solange so rasch als
möglich nachzuschicken. — Am nächsten Abend
war der Unbekannte glücklich im Gefolge
Marceaus ahgereist. — — Wieder am nächsten
Tage aber wußten wir den Vater bereits außer
aller Gefahr. Solanges Freude war unbe-
schreiblich. An diesem Abende gestand sie
mir ihre Liehe. Doch diese Liebe war ihr Ver-
hängnis. Denn statt abzureisen, blieb sie hei
mir in Paris.
Ich verschaffte ihr eine Stelle als Unter-
lehrerin in einem Mädchenlehrinstitut, damit
sie vor den Nachstellungen der revolutionären
Polizei sicher sei. Sie selbst zog in die Rue
Taranne, und alle Sonn- und Donnerstage
barg das ärmliche Dachgeschoß in seinen vier
windschiefen Mauern ein unbeschreiblich rei-
ches Liebesglück.
Vier Monate waren vergangen. Ich hatte
mich einem ganz eigentümlichen Studium hin-
gegeben. Dem Studium des Todes der Gemor-
deten. Aber nicht aus
unnatürlicher Lust
und kr ankhafterEnt-
artung meines Ge-
fühlslebens, sondern
ausMenschenfreund-
lichkeit. Ich bildete
mir ein, daß es, wenn
schon gemordet wer-
den müsse, noch im-
mer besser sei, zu
hängen als zu köpfen.
Viele, die sich er-
hängen wollten, aber
noch rechtzeitig ab-
geschnitten werden
konnten,beschrieben
die Empfindung, die
sie gehabt. Es ist
wie ein plötzlicher

Schlagfluß. Wie ein tiefer Schlaf, ohne jeden
Schmerz. Es geht ein Zerren und ein Reißen
wohl zuerst durch alle Glieder, aber nur se-
kundenlang. Dann hüpft eine blaue Flamme
vor den Augen, man schlummert ein.
Wir waren in der Zeit der häufigsten
Hinrichtungen. Kein Mensch hatte mehr Ge-
walt über den andern, auch Danton mußte
schließlich daran glauben. Man guillotinierte
30—40 Personen täglich, und das Blut auf dem
Schafottplatze fing an, eine unheimliche Pfütze
zu bilden. Ein Teich von grausiger Farbe und
Bedeutung.
Man grub daher rund um das Blutgerüst
eine Grube von drei Fuß Tiefe und deckte diese
jeweils mit Brettern zu. Das war notwendig,
weil einmal ein 8- oder 10jähriger Knabe hier
herumgeklettert und in den abscheulichen
Graben gefallen war.
Ich arbeitete an meinem Propagandawerk
weiter, das die Abschaffung der Todesstrafe
durch den Nachweis des Lehens nach der
Hinrichtung erreichen sollte. Ja, ich verbesserte
die Versuche mit Hilfe des Galvanismus und
der Elektrizität.
Die Regierung überließ mir den Friedhof
Clamart und stellte mir alle Körper und Köpfe
der Justifizierten zur Verfügung. Eine kleine
Kapelle, in einer Ecke des Friedhofes, verwan-
delte ich in ein Laboratorium. Eine Elektrisier-
maschine und vier sogenannte Auslader halfen
mir bei meiner schau-
ervollen Arbeit. Um
5 Uhr nachmittags
kam stets ein neuer
Leichenschub. Die
Körper lagen, von
roher Sackleinwand
bedeckt, auf dem
bluttriefenden und
schmutzstarrenden
roten Karren. Die
Köpfe befanden sich
zusammengebunden
in einem gemeinsa-
men Sack. Ich nahm
in der Regel einen
oder zwei Köpfe und
ebenso viele Leiber
heraus, die übrigen
gab ich zurück. Bei
 
Annotationen