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Striche in die nebelerfüllte Landschaft. In zer-
schlissenen, zerfetztenMänteln liefen die öffent-
lichen Ausrufer an mir vorbei, die die Namen
der zum Tode Verurteilten von der Liste her-
unterheulten. Hinter ihnen jagte unsichtbar der
Tod. Als ich in Clamart anlangte, war es fast
Nacht. Ein trübes
Licht flackerte im
Totengräberhäus-
chen auf, umgewor-
fene und noch ste-
hende Grabkreuze
hohen sich aus der
Dämmerung ab. Der
Wind rauschte in
den entlaubten Bäu-
men, als schlügen
Skelette aneinander.
Zahllose Erdhügel
waren neu aufge-
worfen, daneben
wieder aufnahmsbe-
reite oder schon be-
setzte, aber noch
nicht zugedeckte
Gräber. Der Boden
einer dieser offenen
Gruben war mit
Wasser fast bis zum
Rande gefüllt. Arme, kalte und nackte Leichen,
die in dieses schmutzige Regenwasser dann ein-
fach hineingeworfen wurden! Ich schloß mein
Laboratorium auf. Mit einem Zündstein schlug
ich Feuer, der Schwamm war naß geworden
und fing erst bei dem fünften oder sechsten
Versuche Feuer. Der Flackerschein der Kerze
lief suchend an der Wand entlang. Der Altar
war allen Schmuckes beraubt, die Bilder aus
den Rahmen geschnitten. An der Stelle, wo
früher das Tabernakel, die Versinnbildung von
Gott und allem Lehen stand, lag ein von Haut
und Haaren entblößter Totenschädel, grinsend
ins Nichts.
Ich setzte mich in den Lehnstuhl, den mir
Legros gebracht hatte, und grübelte nach. Ich
gedachte der Königin, die man erst vor wenigen
Stunden in ihre Grube gebettet hatte. An die
Frau, die so schön, so reich, so glücklich ge-
wesen war und die wie eine Schwerver-
brecherin unter wütenden Schmähungen zum
Schafotte geführt worden war. Und ich ver-

glich in Gedanken den grauen Sack, der jetzt
ihr Haupt barg, mit dem weichen Prachtlinnen,
auf das der blonde Mädchenkopf einst im hei-
matlichen Schlosse von Schönbrunn geruht, und
mit den vergoldeten Prunkbetten in Versailles,
St. Cloud und den Tuilerien, auf denen die
königliche Mutter
geschlummert haben
mochte.
Draußen nahm das
Unwetter an Wut
zu. Der Sturm um-
toste in gewaltigen
Stößen die alte Ka-
pelle und trommelte
mit einem Eschenast
auf ihrDach. Der Bo-
den zitterte leicht
unter dem Rollen
eines nahe heran-
fahrenden V/agens.
Ach, der rote Kar-
ren mit Meister Sim-
sons Mittagsbraten.
Zwei vom Regen
triefende Männer
schleppteneinenSack
zur Türe herein.
„Guten Abend, Herr
Ledru“, sagte Legros. „Hier ist wieder etwas
für Sie. Fast steif vor Kälte sind diese Biester.
Na, hier ist es wärmer. Schnupfen werden sie
keinen davontragen.“ Dann gingen siefort, ohne
dieTüre zuzumachen, durch die nun der Wmd
hereinfuhr und meinen Hut und Mantel empor-
wirbelte. Die Flamme meines Lichtes zuckte
auf, flackerte unruhig hin und her und drohte
ganz zu erlöschen.
Rasch schloß ich wieder die Türe und
machte mich mit dem Sacke zu schaffen.
Draußen tobte die Windsbraut, ich hörte die
knarrenden Friedhofsbäume ihr schauriges
Totenlied seufzen und in der Luft das Pfeifen
und Stöhnen der wilden Jagd. War es das
schaurige Konzert der Natur, war es das
Alleinsein in der Kapelle, in der ich sonst mit
meinem Bruder arbeitete, war es die eigentüm-
liche Unruhe, die mich schon während des
ganzen Tages im Banne hielt? Mich erfaßte
zum ersten Male nach langer Zeit ein leises
Grauen. Und plötzlich war es mir, als ob ein
 
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