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DAS TREIBHAUS
WUNDERLICHES UND ABSONDERLICHES
Dieser Teil des „Orchideengarten" wird von Dr. Max Kemmerich bestellt.

Der Diebsscherge und Freimann war ein von
der Gemeinde ausgestoßenes Glied. Niemand
wollte selbst Wohnungsgemeinschaft in einem
Hause mit ihm haben, keinem Henker durfte
das Sakrament des Altars gespendet werden.
„Zuechtiger, Nachrichter vnd Feldmaister oder
Abdekher“ mußten stets ihre besondere Klei-
dung, den üblichen roten Wams tragen, da-
mit sie vor andern erkannt werden konnten,
allein die bloße Berührung eines Freimannes
scheint entehrend gewesen zu sein. Eine
weitere Folge des verachteten Standes war
für den Scharfrichter und seine Knechte die
Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, zu
heiraten. Ein Mittel, sich zu beweiben, stand
ihnen jedoch allenthalben nach altem Her-
kommen frei, nämlich mit der Verbrecherin
selbst, der sie den Kopf abschlagen oder die sie
ins Wasser stürzen sollten; wenn der Frei-
mann sich verbindlich machte, sie zu heiraten,
war ihr das Leben geschenkt. Auch umgekehrt
trat das Verhältnis ein, daß Verbrecher durch
die Fürbitte von Weibspersonen, mit dem Ver-
sprechen, sie zu ehelichen, ihr Leben gewannen.
Noch vom Jahre 1650 erzählt Matthias Abele
in seiner „Künstlichen Unordnung“ von der
im Juli wegen Raubes vor dem Kärntnertor
vollzogenen Hinrichtung zweier Soldaten in
Wien, von denen der eine in der ersten Blüte
seiner Jugend, von Gesicht schön und von
hellem Kraushaar war. Auf der Galgenleiter
schrie er: „Ist denn niemand da, der sich meines
jungen Lebens erbarmet?“ Da lief eine Dienst-
magd her, rief hinauf: „O mein Kind, ich will
dich heiraten!“ Und er: „Mein Schatz, es ist
mir schon recht.“ Sie fiel zu Füßen und bat
mit aufgereckten Händen um Aufschub des
Erwürgens, sie wolle gleich zu Seiner Majestät

dem Römischen Kaiser laufen — allein der
Umstand, daß der Kaiser schon frühmorgens
nach Schloß Laxenburg gefahren war, ver-
schuldete, daß mit der Exekution nicht einge-
halten werden konnte . . . M.
*
In den achtziger Jahren bewohnte mein
Onkel in der Plesser Gegend das alte Stamm-
schloß eines oberschlesischen Fürstengeschlech-
tes. Mein elfjähriger Vetter und seine beiden
zehn-und achtjährigen Schwestern hatten dort
ein gemeinsames, nach dem Park hinausgehen-
des Schlafzimmer, in dem man auch mein Gast-
bett aufgeschlagen hatte. Eines Nachts — der
Vollmond draußen gab dem Zimmer ein eigen-
artiges ungewisses Helldunkel — wachte ich
plötzlich auf und sah, daß die drei anderen
Kinder sich im Bett aufgerichtet hatten und
mit weit aufgerissenen erschreckten Augen
lautlos zum Fenster hinschauten. Ihren Blicken
folgend, gewahrte ich eine hochgewachsene,
schemenhafte Frauengestalt, in einem weich-
fallenden, wie aus Mondschein und Tauperlen
gewebten Faltengewand. Ernst schaute sie uns
der Reihe nach an und wandelte dann unhör-
baren Schrittes quer durchs Zimmer, um im
Nebenraume, dem Schlafzimmer meinesOnkels,
zu verschwinden. Die geschlossene Tür hatte
siebei ihrer Wanderung nicht gestört, sie ging
hindurch, als ob die schwere eichene Türfül-
lung gar nicht vorhanden wäre. Erst nach
längeren Minuten tief erschreckten Schweigens
wagten wir Kinder das seltsame Erlebnis zu
besprechen, und es zeigte sich dabei, daß wir
vier durchaus den gleichen Eindruck bekommen
hatten. Als wir am nächsten Morgen beim
Kaffeetisch erregt von der Erscheinung be-

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