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doch war es ihm lustig zumute, und die Schil-
der der ihm bekannten Restaurants sahen ihn
festlich an.
Er beeilte sich nicht. Er ging zu Leiner und
trank ein Glas Bier. Er traf niemand von seinen
Bekannten. Wen könnte er jetzt auch treffen?
Das müßte schon ein ungewöhnlicher Zufall sein.
Gegen vier Uhr trat er durch die schmale»
offene Pforte in den glasüberdachten Saal des
neuen Hauptpostamts. Er mußte an das alte,
schmutzige Loch denken, wo einst die post-
lagernden Briefe ausgegeben wurden. Heut-
zutage kümmern sich selbst die Beamten um
eine elegante Aufmachung.
Vor dem Kiosk mit dem Briefpapier verkauf
blieb er steben. Ein Drehständer zeigte ihm
alle Abarten süßlicher Banalität, die es auf
dem Gebiete der Ansichtskarten nur gibt.
„Werden die Karten gekauft?“ fragte er die
Verkäuferin.
Das niedliche Mädchen mit gelangweiltem
Gesichtsausdruck zuckte beleidigt die rund-
lichen Schultern.
„Was ist gefällig? “ fragte sie ihn in feind-
seligem Ton. „Briefpapier, Umschläge, An-
sichtskarten?“
Er blickte sie aufmerksam an. Er sah die
kleinen Locken auf ihrer Stirne, den porzellan-
weißen Teintund dieblauen Pupillen und sagte:
„Ich brauche nichts.“
Und. er ging weiter.
Dem Haupteingang gegenüber saßen hinter
dem Doppelschalter eines großen, viereckigen
Verschlags drei junge Mädchen, die die Briefe
ausgaben. Draußen stand das Publikum. Eine
dicke Dame mit einer
Warze auf der Nase
fragte nach einem Brief
auf den Namen Ruslan-
Swonarjowa.
„Wie ist Ihr Name?
Swonarjowa?“ fragte
das Postfräulein, dessen
Gesichtsfarbe an eine
Semmel erinnerte, und
ging zum Schrank mit
den Briefen.
„Ruslan- Swonarjo-
wa!“ rief die Dame mit
der Warze, erschrok-
ken flüsternd.

Und als da3 Postfräulein mit dem Semmel-
gesicht, einen Pack Briefe in der Hand, wieder
vor den Schalter trat, sagte die Dame mit der
Warze:
„Ich habe einen Doppelnamen: Ruslan-
Swonarjowa.“
Neben der Dame stand ein rothaariger Herr
mit einem steifen Hut in der Hand, und ver-
folgte mit unruhigen Blicken die Bewegungen
des zweiten Postfräuleins, des hübschesten von
den dreien, das einen Pack Briefe durchsah
und über diese Tätigkeit sehr stolz schien. Der
Herr erwartete offenbar einen „empfindsamen
und frivolen“ Brief. Er war sehr aufgeregt
und machte einen unangenehmen und jämmer-
lichen Eindruck.
D as dritte Postfräulein, das rundlich und
rotbackig war und ein breites Gesicht und eine
tief in die Stirne gekämmte Mähne kastanien-
braunen Haares hatte, lachte lustig über irgend-
eine Privatangelegenheit. Sie wandte sich jeden
Augenblick an die beiden anderen, die gleich-
falls lächelten, erzählte ihnen etwas wohl sehr
Komisches und lachte.
Resanow reichte ihr stumm seinen Drei-
rubelschein. Er musterte die drei Mädchen
und stellte fest, daß sie jung, gesund und hübsch
waren. Die Postverwaltung legte ja neuer-
dings Wert auf das elegante Aussehen ihrer
Institutionen.
Er mußte an die Zeitungspolemik zwischen
einem Postdirektor und einer Bittstellerin den-
ken, die er neulich irgendwo gelesen hatte. Die
Bittstellerin konnte bei der Post keine Stellung
bekommen, weil sie mager, häßlich, vor Hunger
und Armut welk, und
schon über zweiund-
dreißig Jahre alt war.
Er schloß die Augen,
und vor ihm tauchte so-
fort ein ausgemergeltes,
blasses, erschrockenes
Gesicht mit weitaufge-
rissenenAugenund ner-
vös zuckenden Lippen
auf. Jemand flüsterte
leise, doch deutlich:
„Ich habe nichts, wo-
von zu leben.“
Jemand anderer ant-
wortete ebenso ruhig:


Lessie Sachs / Gefangene

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