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„Der Tod fürchtet die Lebenden und zeigt
sich ihnen niemals unverschleiert. Du bist
wohl der erste, der mein Gesicht, das irdische,
menschliche Antlitz seines Todes geschaut hat.“
Er sagte:
„Du spielst deine Rolle zu schnell und zu
gewissenhaft. Sage mir, wie du heißt!“
Sie erwiderte mit traurigem, mildem Lächeln:
„Ich hin dein Tod, dein weißer, stiller, sturm-
loser Tod. Beeile dich, die irdische Luft zu
atmen, — deine Stunden sind gezählt.“
Er runzelte die Stirne und sagte:
„Du bist eine gebildete Frau, du leidest Not
und bittest um Geld. Was hat dich so weit
gebracht, daß du auf alle meine Bedingungen
eingegangen bist und dich bereit erklärst, eine
so unheimliche Rolle zu spielen?“
Sie antwortete:
„Ich bin hungrig, krank, müde und traurig.“
Er lachte und sagte:
„Ruhe dich vor allen Dingen aus. Warum
stehst du? Setz dich doch auf eine Bank.“
Sie gingen einige Schritte weiter und setzten
sich. Sie zeichnete mit der Spitze ihres Schirmes
ein verwickeltes Muster in den Sand.
Er sagte:

„Du hast Hunger. W enn du willst, fahren
wir in ein Restaurant, und ich gebe dir zu
essen. Ich will dir auch das Geld gehen, um
das du gebeten hast. Sage mir, willst du noch
etwas von mir?“
Sie antwortete:
„Ich will dir alles nehmen, was du zu geben
vermagst: dein Gold und deine Seele.“
Er fuhr zusammen. Dann sagte er lachend:
„Du spielst deine Rolle ausgezeichnet!“
Sie antwortete:
„Ich bin gekommen. Meine Stunde wird
bald schlagen. Ich warte.“
Er holte seinen Geldbeutel aus der Tasche.
Im kleinen mittleren, von einer Stahlklammer
geschlossenen Fach lagen die fünf Goldstücke,
die er für sie vorbereitet hatte. Er holte sie
heraus.
Sie streckte stumm ihre schmale, blasse,
sanfte und ruhige Hand aus. Feine Linien
durchkreuzten die weiße Handfläche als klares,,
einfaches Netz.
Die fünf Goldstücke legten sich mit hellem
Klirren eines nach dem andern auf ihre kalte»
regungslose Hand. Die feinen, langen, weißen
Finger schlossen sich langsam, und die Hand


Hans Weiditz (um 1532)

Holzschnitt
 
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