Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

DOI Heft:
Zwölftes Heft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0290
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

zu wissen, dal? er selbst noch Lorenzos Leiche
hätte aus dem Grah zerren und zerreißen
mögen.
„Michael,“ rief ich und sprang hervor,
„komm zurück!“
Der Kapitän fuhr empor und brach in ein
tolles Gelächter aus. „Wohin?“ fragte er. „Ich
muß ihn nochmals suchen. Er soll nicht glau-
ben, daß ich feig war!“ Aber etwas, das mich
viel mehr als seine Raserei anpackte, war, daß
plötzlich der alte Kastellan fehlte.
„Wo ist dein Führer?“ entgegnete ich er-
schrocken. Michael sah mich ohne Verstehen
an. Welcher Führer? Und ob ich so trunken
von dem erbeuteten Malvasier sei, in meiner
Phantasie Spukgestalten zu sehen? „Herr des
Himmels“, schrie ich in aufglimmendem
Grauen und warf mich gegen die Türe, die
ich eben durchschritten hatte. Sie war ver-
sperrt. Trotzdem sie nur aus leichtem Holz
gefügt schien, wich sie selbst dann nicht, als
ich versuchte, sie mit Michaels Degen zu
sprengen. „Ein verrostetes Schloß“, höhnte er.
Aber nun sprang ich schon, wahnwitzig wie
eine Ratte in der Falle, gegen das Fenster, um
zu prüfen, ob dort ein Entkommen möglich
sei. Mit dem Ärmel des goldgestickten Rockes,
den ich dem Ratsherrn von Ragusa abgejagt
hatte, wischte ich die Spinnennetze von den
Scheiben. Man sah geradewegs auf die Bucht
hinunter, in deren Mitte unsere Raubgaleone
vor Anker lag. Der volle Mond hatte die
kahlen Berge wie beschneit, und das Meer floß
als geschmolzenes Silber. Tief am Horizont
standen einige schmale, übersinnlich weiße

Wolkenbänke. Als ich jedoch die Höhe von
dem Fenster hinab zum Park abschätzte, war
es nicht die Unmöglichkeit, aus diesem ver-
hexten Raum einen Sprung zu wagen, sondern
etwas ganz anderes, das mir das Blut gerinnen
ließ.
Die größte der Föhren, die einst Don Lorenzo
unten am Wfesenrande gepflanzt hatte und
unter der wir noch am Abend vergnügt ge-
wesen waren, hatte ihren Platz verlassen. Sie
stand jetzt düster und mächtig auf dem freien
Raume und halbwegs zwischen dem Schlosse
und unserem früheren Lager. „Du lügst,“
zischte Michael, den ich mit verdorrter Kehle
heranrief, die Erscheinung zu betrachten, „was
sollte er in seinen Bäumen herum wandern?“
Atemlos maßen wir an den zahllosen Blüten
der wilden Narzissen, mit denen die Wiese
gefleckt war, ob sich der Stamm tatsächlich
bewege. Man hatte Mühe, dies abzuschätzen.
Aber doch war es bald unzweifelhaft, daß die
Föhre mit gräßlicher Langsamkeit sich den
Hang heraufschleppte und dabei ihre Krone
starr, wie eine Schnecke ibr Haus, vorwärts
schob.
Jetzt war es Michael, der plötzlich, sich aus
seiner Erstarrung reißend, aufheulend vom
Fenster weg und gegen die Türe stürzte. Ich
selber trat zurück. Lahm vor Grauen lehnte
ich an der Wand und betrachtete die Be-
mühungen des Kapitäns. Mit seiner Stierkraft
schmetterte er die schwere Platte eines Tisches
gegen die Füllung. Das Holz splitterte unter
dem furchtbaren Anprall ab, doch die Pforte
wich so wenig, als wenn sie mit der Mauer

4
 
Annotationen