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Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

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Zwölftes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0292
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Tony Johannot / Aua „Voyage oü il roui plaira“ / Paria 1843

DAS BAUM GESPENST*
Von Leopold Plaichinger
EIN müde welkender Herbstabend. Feier-
stunde letzten Abendglühens, Trauer-
stunde müden Tagverblübens. Ein letztes
Lichtaufatmen des Abends, dann rieselt wei-
ches Dämmern über die Wiesenhänge. Tiefer
werden die Schattenlöcher in den Hasel-
büschen. Trockenes Goldlaub raschelt mein
Ful? auf. So einsam ist das Land umher, so
dämmertief und wortentlegen.
Einer alten Linde gegenüber setzte ich mich
ins kurzhalmige, herbstborstige Gras. Ich sehe
den Baum an. Wie man sonst blickhuschend
* Aus „Dämonen des Schweigens“. Novellen von
Leopold Plaichinger. Dreiländerverlag, München.

die Dinge betrachtet. (Hätte damals mich je-
mand gefragt, wie der Baum aussähe, ich hätte
es mit verschlossenen Augen nicht zu sagen
vermocht)
Suchte nur mein Auge einen Haltepunkt,
oder versetzte mir eine unbekannte Gewalt
einen Stol?, ich weil? es nicht; plötzlich mul?te
ich den Baum festhaltend ansehen. Mein Blick
lief im Traggestänge seiner Laubkuppel kreuz
und quer und suchte gleichsam den Herzpunkt,
von dem aus des Baumes Leben treibt. Unruhe
stürzte in mein Inneres, wie in einen plötzlich
aufgerissenen Hohlraum. Mich schauerte es
bis in die Knochen. Ich blickte zu Boden und


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