Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

DOI Heft:
Zwölftes Heft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0302
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
das rechte Bein am Oberschenkel amputiert.
Noch nie hatte er bei einer Operation mit
solcher V/ollust das Messer geschwungen.
Nun folgte das Experiment. Hochangesehene
Kapazitäten der Wissenschaft, ehrwürdige
Köpfe mit weltberühmten Namen aus aller
Herren Ländern umstanden das Bett des Ent-
deckers. Alle in fieberhafter Erregung. Jeder
fühlte, dal? er eine historische Stunde erlebte.
Dr. Siebenhüner, aus der Narkose erwacht,
nahm die Spritze, die Injektion selbst auszu-
führen. Selbstsicher, wie ein Mann, der sich
seines Erfolges unbedingt gewif ist. Die Blicke
der andern umklammerten seinen Beinstumpf,
starr, atemlos. Ihre brillenbewehrten Augen
schienen sich zu weiten, denn jetzt konnte man
ganz deutlich wahrnehmen, wie sich der Bein-
stumpf mit der Langsamkeit eines Uhrzeigers
verlängerte. — Nach Verlauf einer Stunde war
er um fünf Zentimeter gewachsen.
Freudig nahm Dr. Siebenhüner die Glück-
wünsche der Zuschauer entgegen. Das Wachsen
verursachte keinerlei Schmerzen, versicherte
er ihren vielen Fragen. Nur eine seltsame
Müdigkeit mache sich bemerkbar. Er bat des-
halb die Herren, ihn allein zu lassen, am andern
Morgen würde er sie
mit zwei gesunden
Beinen im Hotel auf-
suchen. Die vier Ver-
schwörer tauschten
einen Blick. Finster-
glühend wie tük-
kische Krater.
Professor Stüm-
pelfinger hatte eine
schlaflose Nacht. Ein
schwerer Traum la-
stete auf ihm. Er
hatte ein Elixier er-
funden, mit dem er
sich unsichtbar ma-
chen konnte. An sich
selbst hatte er es er-
probt.Und dannhatte
ihm ein neidischer
Kollege das Gegen-
mittel entwendet, so
dal? er verurteilt war,
zeitlebens unsicht-
bar durchs Leben zu

gehen. Da fuhr er auf. Die Türglocke schrillte
gellend durchs Haus. Sicher bedeutete das
nichts Gutes. Dann öffnete er. Die Schwester
aus Dr. Siebenhüners Klinik stand vor ihm.
„Um Gotteswillen. Herr Professor, Sie
müssen sofort mit mir kommen. Das Bein des
Doktors wächst seit einigen Stunden wierasend.
Wir haben schon ein zweites Bett anbauen
müssen.“
Vor Aufregung versagte ihr. die Stimme.
Der Professor zog sich an. Beide gingen. Auf
der Strafe dämmerte schon der Morgen.
Ein seltsames Bild bot sich in der Klinik.
Das Bein des im Bett Liegenden war inzwi-
schen weiter gewachsen. Längst hatte es im
Zimmer keinen Platz. Man hatte es schon auf
die Fensterbank gelegt. Da wuchs es nun ins
Weite.
Der Doktor war verzweifelt.
„Sie müssen mir helfen, Kollege. Ich werde
sonst wahnsinnig. Man hat mir das Gegen-
präparat gestohlen, und nun wächst das Bein
ins Endlose. Laufen Sie in mein Laboratorium.
Dort finden Sie die Formel, nach der Sie das
Präparat zusammenstellen können. Aber gehen
Sie, jede Minute ist kostbar!“
Der Professor er-
holte sich langsam
aus seiner Bestür-
zung. So entsetzlich
hatte er sich die Fol-
gen seiner unheil-
vollen Tat nicht vor-
gestellt. Ihm schwin-
delte. Doch es galt zu
handeln. Zu retten,
was sich noch retten
lief. Also gab er
atemlos Anweisung,
den Patienten aus
seiner unbequemen
Lage zubefreien und
draufen im Garten
aufzustellen. Dann
stürzte er ins Labo-
ratorium. Hier stief
er auf ProfessorKra-
kenberger, seinen
Mitverschworenen.
Sie sahen sich in
die Augen. Mit einem


Schmidtbauer / Die Beschwörung
 
Annotationen