alten Spiegeln beobachten“, erklärte der junge
Reisende seiner Gefährtin.
Sie sagte: „Ja. Aber er gefällt mir nun mal
nicht richtig, dieser Spiegel — komm, wir
gehen schnell zum Essen hinaus in den Garten!‘
Es war ein altes Wirtsgärtchen mit großen’
verschnittenen Lindenbäumen, die baldachin-
artig über der ganzen Fläche des Kiesplatzes
lagerten. Hölzerne Bänke und Tische, deren
Beine in die Erde gepfählt waren, standen dar-
unter. Der kleine Grüne tanzte herum, we-
delte mit einer schmutzigen Serviette die ab-
gefallenen Lindenblätter von den Tischplatten
und piepste: „Befehlen, die Herrschaften?“
Sie bestellten ein Essen, wie es im Haus zu
bekommen war, und blieben nun eine Weile
allein. Von den Bäumen herunter duftete es.
Eine feine Dämmerung lag ringsum gebreitet.
Der Grüne kam mit dem Speisentablett. Ihm
folgte der Wirt.
„Interessieren sich die Herrschaften vielleicht
auch für V/ein? Ich hätte einen ganz beson-
deren — ganz besonderen — — ?“
,-Ja, geben Sie ihn nur, wenn er wirklich so
besonders ist“, entschied der Mann.
„Das ist er, das ist er in Wahrheit“, beteuerte
der ^Virt mit seiner krächzenden Stimme. Und
er drehte sich um und schlurrte fort, den Wein
zu holen.
„Sieh doch hin, wie er da verschwindet“
flüsterte die Frau zaghaft. „Ist es nicht ganz
als wehten ihm häßliche graugrüne Flügel nach ?
Und dann diese böse, unheimliche Stimme-
„Ja, das ist das tgroße allgemeine Unglück,
daß das Alterlselten nur verschönt. Die meisten
Menschen werden häßlich und unappetitlich,
wenn sie so gegen die achtzig kommen. Und
noch spätere Jahrgänge tragen jene Zeichen der
Zerstörung und des
Verfalls—oft eines Ver-
falls, der schon jenseits
des Lebendigen in der
Zone der Verwesung
liegt, immer deutlicher
an sich.“
„Pfui, was sagst du
für Abscheulichkeiten!
Ich kenne so reizende
alteMenschen. ZumBei-
spiel eine uralte Dame
mit weißen Seiden-
löckchen über den Schläfen, in Lilakleidem
mit Spitzen, immer nach Lavendel riechend,
und ihre Augen sind ganz jung, und ihr Herz
begeistert sich an allem Schönen.“
,Ja, ja — mag wohl sein, auch solche gibt es“
gab er etwas abwesend zu. Und dann weiter,
wie in plötzlichem Aufflackern des Lebens
„Aber, du! Schöner ist die Jugend! Schöner
sind wir!“ Und er beugte sich tief auf ihren
Mund nieder — und nahm von dort den süßen
Atem der Jugend zwischen seine Lippen, auf
seine Zunge.
„Du — du — wie schmeckst du nur —“,
flüsterte er in ihren Mund hinein.
„Hier — hier — der V/ein! Hier, die Herr-
schaften, Sie sollen sich überzeugen — ich holte
ihn nun — holte ihn nun.“
Sie waren beim ersten Laut erschreckt aus-
einandergefahren. Verwirrt stotterte der junge
Mann: „Das — war — war ja sehr hübsch
von Ihnen, daß Sie ihn holten — —.“
Der Wirt umkrallte den Flaschenhals und
zog an dem Pfropfen. Dabei stöhnte er häßlich
in sich hinein.
Dann aber sprudelte aus der Flasche ein
heller, etwas prickelnder Wein, von dem wun-
derbarer Duft aufströmte.
„Wie heißt der Wein ?“
„Lacrimae exorcistati“, schnarrte der Wirt.
„Was? Wie war der Name? Zeigen Sie
doch mal das Etikett!“ Er drehte den Wein mit
der Aufschrift zu sich herum. „Lacrimae —“
stand da, und die Fortsetzung war auf dem
halbzerfressenen und halbgelösten Schildchen
nicht mehr zu entziffern.
„Lacrimae Christi, wird dort gestanden ha-
ben“, meinte der junge Mann halblaut. Er hatte
denEindruck gehabt, daß der Wirt sehr schwer-
hörig sei, abernun zeigte
es sich, daß er trotz
seines Alters und trotz
der eigenen ungeregelten
und mißtönenden Stim-
me, wie sie meist nur
taube oder sehr schwer-
hörige Menschen haben,
dennoch sehrfein hörte.
Er fuhr ab wehrend
und diktatorisch mit
dem Zeigefinger durch
die Luft und lachte
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Reisende seiner Gefährtin.
Sie sagte: „Ja. Aber er gefällt mir nun mal
nicht richtig, dieser Spiegel — komm, wir
gehen schnell zum Essen hinaus in den Garten!‘
Es war ein altes Wirtsgärtchen mit großen’
verschnittenen Lindenbäumen, die baldachin-
artig über der ganzen Fläche des Kiesplatzes
lagerten. Hölzerne Bänke und Tische, deren
Beine in die Erde gepfählt waren, standen dar-
unter. Der kleine Grüne tanzte herum, we-
delte mit einer schmutzigen Serviette die ab-
gefallenen Lindenblätter von den Tischplatten
und piepste: „Befehlen, die Herrschaften?“
Sie bestellten ein Essen, wie es im Haus zu
bekommen war, und blieben nun eine Weile
allein. Von den Bäumen herunter duftete es.
Eine feine Dämmerung lag ringsum gebreitet.
Der Grüne kam mit dem Speisentablett. Ihm
folgte der Wirt.
„Interessieren sich die Herrschaften vielleicht
auch für V/ein? Ich hätte einen ganz beson-
deren — ganz besonderen — — ?“
,-Ja, geben Sie ihn nur, wenn er wirklich so
besonders ist“, entschied der Mann.
„Das ist er, das ist er in Wahrheit“, beteuerte
der ^Virt mit seiner krächzenden Stimme. Und
er drehte sich um und schlurrte fort, den Wein
zu holen.
„Sieh doch hin, wie er da verschwindet“
flüsterte die Frau zaghaft. „Ist es nicht ganz
als wehten ihm häßliche graugrüne Flügel nach ?
Und dann diese böse, unheimliche Stimme-
„Ja, das ist das tgroße allgemeine Unglück,
daß das Alterlselten nur verschönt. Die meisten
Menschen werden häßlich und unappetitlich,
wenn sie so gegen die achtzig kommen. Und
noch spätere Jahrgänge tragen jene Zeichen der
Zerstörung und des
Verfalls—oft eines Ver-
falls, der schon jenseits
des Lebendigen in der
Zone der Verwesung
liegt, immer deutlicher
an sich.“
„Pfui, was sagst du
für Abscheulichkeiten!
Ich kenne so reizende
alteMenschen. ZumBei-
spiel eine uralte Dame
mit weißen Seiden-
löckchen über den Schläfen, in Lilakleidem
mit Spitzen, immer nach Lavendel riechend,
und ihre Augen sind ganz jung, und ihr Herz
begeistert sich an allem Schönen.“
,Ja, ja — mag wohl sein, auch solche gibt es“
gab er etwas abwesend zu. Und dann weiter,
wie in plötzlichem Aufflackern des Lebens
„Aber, du! Schöner ist die Jugend! Schöner
sind wir!“ Und er beugte sich tief auf ihren
Mund nieder — und nahm von dort den süßen
Atem der Jugend zwischen seine Lippen, auf
seine Zunge.
„Du — du — wie schmeckst du nur —“,
flüsterte er in ihren Mund hinein.
„Hier — hier — der V/ein! Hier, die Herr-
schaften, Sie sollen sich überzeugen — ich holte
ihn nun — holte ihn nun.“
Sie waren beim ersten Laut erschreckt aus-
einandergefahren. Verwirrt stotterte der junge
Mann: „Das — war — war ja sehr hübsch
von Ihnen, daß Sie ihn holten — —.“
Der Wirt umkrallte den Flaschenhals und
zog an dem Pfropfen. Dabei stöhnte er häßlich
in sich hinein.
Dann aber sprudelte aus der Flasche ein
heller, etwas prickelnder Wein, von dem wun-
derbarer Duft aufströmte.
„Wie heißt der Wein ?“
„Lacrimae exorcistati“, schnarrte der Wirt.
„Was? Wie war der Name? Zeigen Sie
doch mal das Etikett!“ Er drehte den Wein mit
der Aufschrift zu sich herum. „Lacrimae —“
stand da, und die Fortsetzung war auf dem
halbzerfressenen und halbgelösten Schildchen
nicht mehr zu entziffern.
„Lacrimae Christi, wird dort gestanden ha-
ben“, meinte der junge Mann halblaut. Er hatte
denEindruck gehabt, daß der Wirt sehr schwer-
hörig sei, abernun zeigte
es sich, daß er trotz
seines Alters und trotz
der eigenen ungeregelten
und mißtönenden Stim-
me, wie sie meist nur
taube oder sehr schwer-
hörige Menschen haben,
dennoch sehrfein hörte.
Er fuhr ab wehrend
und diktatorisch mit
dem Zeigefinger durch
die Luft und lachte
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