Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Orchideengarten : phantastische Blätter — 1.1919

DOI Heft:
Fünfzehntes Heft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.29026#0381
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

„Nun, haben wir endlich alles?“ fragte der
Meister,„dann gehen wir mit Gott!“ Da sprach
der Diener: „Herr, ich möchte einen Vorschlag
machen. Es ist gescheiter, wir frühstücken
noch hier zu Hause, bevor wir gehen, denn es
ist spät.“ „Das ist beim heiligen Johannes ein
guter Rat“, lachte der Maler. Wie dem Pfarrer
bei diesen Worten zumut war, das weil? nur
Gott allein. —
Während sie so beim Frühstück sal?en, kamen
die beiden Abgesandten und wollten ihr Kru-
zifix haben. Der Maler fiel? sie eintreten und
bot ihnen vom Frühstück an. Nachdem sie
tüchtig zugegriffen hatten, fragte sie der Maler
nach ihrem Wunsche. ,Ja, wir wollen nun
unser Kruzifix holen“, sagten sie. Und der
Maler bedeutete ihnen, ihm zu folgen, was sie
auch taten. Da verwunderte sich der arme
Schelm von einem Pfarrer sehr, dal? man sich
anschickte, ihn zu besuchen, und legte sich
wieder ganz nackt auf ein Kreuz, so wie er es
schon einmal getan. Als alle oben auf dem
Speicher waren, sahen sich die beiden Land-
leute um, welches wohl das beste Kruzifix
wäre. Und während sie sich eines aussuchten
sprach der Meister zu seinem Diener: „Nun
hast du alles gut besorgt“ und auf den Pfarrer
deutend: ,/Wann hast du dieses Schnitzwerk

vollendet? ich mul? sagen, dal? es dem Leben vor-
trefflich nachempfunden ist.“
„Ich habe es erst vor acht Tagen fertig ge-
macht“, antwortete der Gehilfe. Während-
dessen hatte der Maler ein großes Messer her-
vorgezogen, beugte sich zu dem Kreuze und
sagte zu seinem Diener: „He, du schlechter
Bursche, habe ich dich gelehrt, die Kruzifixe
so zu schnitzen, daß man so viel von ihrer
Mannheit sieht?“ — Sprach's und entmannte
den Pfarrer, der gottsjämmerlich zu schreien
anhob: „O du mein Gott, ich bin tot“, und dann,
so rasch er konnte, splitternackt aus dem Hause
lief. — „Gottes Wunder“, rief der Maler aus,
„seht, ein Kruzifix, das läuft! Da seht ihr
eines von den lebendigen, wenn ihr ein solches
haben wollt/
„Bei meiner Seele, ich würde nicht raten,
ein lebendiges zu nehmen,“ sprach der eine der
Abgesandten, „es könnte uns davonlaufen wie
dieses und wir hätten unser Geld verloren“. —
So einigten sie sich, ein anderes zu kaufen,
das sie dem Meister so bezahlten, daß er zu-
frieden war.
Aber der Pfarrer war nicht froh, denn er
hatte sein Geschlecht, seine Kleider und sein
Geld gelassen und obendrein bei seiner Herzens-
dame nichts erreicht, was ihn zu tiefst betrübte.

23
 
Annotationen